Musiktheater: Bis zur absoluten Disharmonie
Drei Laienschauspieler mit Tourette-Syndrom machen zusammen mit Profis ohne Tourette-Syndrom auf Kampnagel in Hamburg Musiktheater. Die Idee ist, dass die unkoordinierten Bewegungen und Schreie der Touretter Teil der Gesamtkomposition werden. Darf man das machen: Menschen mit Tic auf der Bühne zur Schau zu stellen?
Setzten Sie sich mal in eine U-Bahn und beobachten Sie die Leute ganz genau. Zerkaute Fingernägel, wackelnde Beine, nervöses Kratzen - Sie werden feststellen: Fast jeder der Beobachteten hat irgendeinen Tic. Der Neurologe Oliver Sacks fand bei einem Feldversuch im New York der sechziger Jahre heraus, dass im Stadtbild einer modernen Großstadt Menschen mit Tics in der Überzahl sind. Die Norm ist die Ausnahme, so die These des Neurologen.
Auf Grundlage dieser Beobachtungen plante die Musiktheatergruppe Opera Silens ihr neues Stück Neurovisions. "Vor allem die Popmusik", sagt Regisseur Hans-Jörg Kapp "verstehen wir als kontrolliertes Ausleben unterdrückter Tics." Man denke etwa an Elvis Presley, James Brown oder Iggy Pop. "Immer geht es um einen Überschuss, der an die Luft gesetzt werden muss."
"Trois, deux, un, zéro!", und Nadine Nollau springt ans Mikro. "Boum badaboum boum boum", stimmt die Schauspielerin schwungvoll an. Der eingängige Refrain des Eurovision-Hits von Minouche Barelli eignet sich grade zu perfekt, um das Schwelgen in Tics der Popmusik zu veranschaulichen. Doch im Laufe des Liedes verliert sich der Refrain im Abstrakten - "Bada dada boum! Boum! Boum!" - bis schließlich eine absolute Disharmonie entsteht. Alles zerfällt in Wortfetzen, Klanglaute, abgehakte Bewegungen.
"Wir geben die Tics nicht einfach nur wieder", erklärt Dramaturgin Judith Schneiberg, "wir übertreiben sie auch bis ins Unermessliche."
Doch im Unermesslichen, isoliert von jeglicher Melodie, entwickeln die Liedbausteine eine gewisse Eigendynamik, fügen sich mit eingespielten Samples ineinander und finden schließlich den Weg in die Harmonie zurück. Wegbereiter dabei sind nicht selten Malte Palinsky, Duran Petermann und Daniel Weber.
Die drei Laiendarsteller leiden unter dem Tourette-Syndrom. Sie kauen nicht an den Fingernägeln oder wackeln mit den Beinen, sondern rutschen auf ihren Stühlen hin und her, springen plötzlich auf und schreien alle paar Sekunden laut auf. Sie können diese Tics nicht abstellen oder unterdrücken. Trotzdem vermögen sie es, ihre Tics an der richtigen Stelle im Stück harmoniebildend oder harmoniebrechend in die Gesamtkomposition einzufügen.
Die Touretter verleihen dem Stück einen gewissen akustischen und motorischen Rahmen. Aber kann man das machen: die Touretter mit ihrer Krankheit auf der Bühne zur Schau stellen? Die Touretter stehen nie wirklich im Mittelpunkt des Geschehens. Sie wirken eher wie ein Begleitorchester. Weder wird ihre Krankheit erklärt noch auf ihre Probleme eingegangen, viel eher wird ihre Krankheit als Sinnbild für grenzenloses Abrocken benutzt.
Auch die Tatsache, dass die Touretter nicht alleine auf der Bühne stehen, sondern in Begleitung von Professor Dr. Alexander Münchau, Tourette-Experte des Universitäts-Klinikums Eppendorf, entschärft die Situation nicht. Im Gegenteil: Seine Rolle gibt der Skepsis, die man gegen das Projekt hegen könnte, noch Futter. Denn er fungiert auf der Bühne zwar als Bezugsperson der Touretter, lässt sie sich dort sicher fühlen, doch für den Zuschauer wirkt es, als sei er ihr Aufpasser, als stehe er dort, um jeden Moment eingreifen zu können.
"Natürlich", sagt Münchau, "hatte auch ich anfangs meine Bedenken." Aber das Hauptproblem vieler Touretter sei von je her die öffentliche Reaktion auf ihre Krankheit. "Im Kontext des Theaters bekommen Palinsky, Petermann und Weber hingegen die Möglichkeit ihre Tics mit voller Akzeptanz der Öffentlichkeit auszuleben." Das sei unheimlich wichtig für sie. Sie gehen mit dem Publikum und dem Ensemble eine synergetische Beziehung ein.
"Das muss auf jeden Fall erlaubt sein", findet auch Dramaturgin Schneiberg. "Wir führen die Touretter nicht vor. Wir stehen im Dialog mit ihnen." Wie wörtlich das zu verstehen ist, verdeutlicht eine der Schlüsselszenen des Stücks. Hier steht der Touretter Duran Petermann der Sängerin Frauke Aulbert gegenüber. Petermann gibt sich ganz seinen Tics hin: bellt, kreischt, winkt und zuckt. Aulbert nimmt diese Geräusche und Bewegungen auf und gibt sie wieder. Es wirkt jedoch nicht so als würde sie ihn nachäffen, sondern viel eher als würden sie mit ihm kommunizieren. Im Laufe des Dialogs entwickelt sich eine gewisse Melodie zwischen den beiden und die Konservation wird zum Duett.
Opera Silens: "Neurovisons -eine gesamteuropäische Touretterie"; Uraufführung: 20. 01., 21:00 Uhr,auf Kampnagel in Hamburg; weitere Termine: 22. 1. bis 24. 1. und 28. 1.bis 30. 1. jeweils 19:30 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte
Syrische Geflüchtete in Deutschland
Asylrecht und Ordnungsrufe