Musik in Berlin: Ein bisschen Taksim in Kreuzberg
Der Pianist Davide Martello spielte im Juni zwischen den Fronten in Istanbul. Am Mittwochabend sorgte er auch auf dem Berliner Oranienplatz für Gänsehaut.
BERLIN taz | Davide Martello schob einfach seinen schwarzen E-Flügel auf den Taksimplatz, zwischen die Steine und den Schutt, zwischen Polizisten und Demonstranten. Er begann zu spielen, „Imagine“ von John Lennon, sowas. Die Menschen versammelten sich um ihn.
Sie legten ihre Helme ab. Sie lauschten, sie sangen mit. Friedliche Stunden, die in einem so starken Kontrast standen zu den Tumulten in Istanbul vorher und nachher, dass manche zu weinen begannen. Über Nacht wurde der deutsche Pianist in der Türkei für viele zum Helden.
Am Mittwoch steht der schwarze Flügel wieder unter freiem Himmel, diesmal in Kreuzberg auf dem Oranienplatz. Es ist ein lauer Abend. Hunderte sind spontan gekommen. Sie haben sich auf gelben Müllsäcken auf dem sandigen Boden niedergelassen und bilden einen großen Kreis um das Instrument. Junge und Alte, Migranten, Touristen, deutschstämmige Kreuzberger Ökos. Radfahrer bleiben stehen. Auch der immer hagerer werdende Christian Ströbele sitzt auf einer Bank.
Martello, ein schmaler junger Mann in blauem T-Shirt mit Hut beugt sich über die Tasten. Teils sind es zarte, melancholische Melodien, die über den Platz wehen. Dann klingt die Musik wieder kräftig und entschieden. Wie in Istanbul spielt Martello „Imagine“. Und man hat das Gefühl, für einen Moment die Energie von dort auch hier zu spüren.
„Freiheit auf allen Plätzen dieser Welt“
Martello stammt aus Konstanz. Er tourt mit seinem Flügel durch die Welt und war gerade in Sofia, als er von den Istanbuler Protesten hörte. Er beschloss, dort zu spielen. „Die Stimmung war gigantisch. Alle Aggressionen waren einfach weg“, erzählt er im nachhinein.
Das Konzert auf dem Taksim-Platz klingt auf dem Oranienplatz immer mit. Zwischen den Stücken klatscht und johlt das Publikum. Einige junge Berliner rufen auf Türkisch laut: „Taksim ist überall, überall ist Widerstand“ und recken die Faust in die Luft. Um bei den ersten sanften Tönen des Pianisten sofort zu verstummen. Ein berührendes Wechselspiel.
In anderen Zusammenhängen könnte man Martellos Musik als kitschig empfinden. Wahrscheinlich würde sie sich auch als Hintergrundgedudel in einer Hotellobby eignen. Doch an diesem Abend mitten in Kreuzberg ist sie einfach nur schön. Und ernst. Schließlich war Martello Teil einer Bewegung, der es um etwas Großes geht. Um Rechte, um Demokratie. Das verleiht dem Pianisten eine Bedeutung, die weit über ihn selbst hinausweist.
„Freiheit auf allen Plätzen dieser Welt“, ruft jemand von hinten. Und man vergegenwärtigt sich, wie besonders auch der Oranienplatz ist. Flüchtlinge zelten hier seit Monaten. Auf kaum einem anderen Platz der Republik wäre das wohl möglich. Und jetzt, auf der anderen Seite der Oranienstraße dieses Konzert, ruhig und rebellisch zugleich.
Nach über zwei Stunden, als es schon blau zu dämmern beginnt, hört Martello schließlich auf zu spielen. Er klettert auf seinen Hocker, reckt die Hände mit dem Victory-Zeichen in die Luft und fällt in die Taksim-Rufe ein. Für einen Moment wird es noch ein Mal kämpferisch. Dann sammeln die Aktivisten die Müllsäcke ein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen