Museumsarbeit im Krieg: „Sie stehlen unsere Kultur“

Die Kunstwissenschaftlerin Yulia Berdiiarova floh aus der Ukraine nach Köln. Ein Gespräch über Kulturerbe im Krieg und Museumsarbeit aus dem Exil.

Blick in ein ausgebombtes Museum in Mariupol, im Vordergrund eine abgebrannte Büste

Blick in das abgebrannte Heimatmuseum von Mariupol nach einem Beschuss im April Foto: ap

taz am wochenende: Frau Berdiiarova, wie sind Sie nach Köln gekommen, und wie ist die Situation für Museumsleute in der Ukraine zurzeit?

Yulia Berdiiarova: Im Februar habe ich noch im Mystet­skyi Arsenal in Kiew gearbeitet, einer wunderschöne Institution in der Ukraine, ein riesiges altes Gebäude aus dem 18. Jahrhundert. Doch am Anfang des Kriegs war ich in meiner Heimatstadt Odessa. Am ersten Tag der Invasion rief ich meine Kollegen im Kunstmuseum Odessa an, ob sie Hilfe bräuchten. Zusammen bereiteten wir die Evakuierung der Kunstwerke vor.

Im Mystetskyi Arsenal hatten wir schon vorher den Plan eines Netzwerks aus fünf Museen. Leider sind die meisten von ihnen jetzt in den besetzten Gebieten. Aber wir machen online weiter. Ironischerweise waren der Austausch und Zusammenhalt der ukrainischen Museen nie so stark wie jetzt. Wir helfen uns bei den Evakuierungen, wir finden sichere Orte, wir senden uns Geld.

Welche sicheren Orte gibt es noch für Museumsmitarbeiter?

Vor allem Dnipro in der Mitte der Ukraine, da haben wir Fluchtorte und Arbeitsmöglichkeiten organisiert. Es ging in erster Linie um die Rettung der Museumsmitarbeiter aus Mariupol, Cherson und Mykolajiw. Die meisten wollen im Land bleiben. Was uns sehr hilft, ist ein regelmäßiges Onlinemeeting, im letzten waren wir 81 Teilnehmer. Es ist schrecklich, intensiv und lustig zugleich.

Die Direktorin des historischen Museums in Lugansk etwa hat ihre Sammlung bereits zum zweiten Mal verloren. Die ukrainischen Soldaten halfen ihr bei der Evakuierung. Mittendrin wurde ein russisches Kriegsflugzeug abgeschossen. Sie fand den Fallschirm auf dem Boden. Da sie die Direktorin eines historischen Museums ist, behielt sie ihn und sagte: „Das ist das erste Objekt meiner neuen Sammlung.“ Sie und ihr Team sind jetzt in Lwiw, einem der Orte, die etwas sicherer sind im Moment. Ihr Museum in Lugansk existiert auf eine Weise noch, sie erhält zurzeit viele evakuierte Objekte aus den besetzten Gebieten.

Was hat sich in der Museumsarbeit geändert seit der Krim-Annexion 2014?

Ich kann nur erzählen, wie sich die Gesellschaft verändert hat. Das erste Jahr verbrachten wir in Schockstarre. Wir dachten, der Tod von Menschen während der Majdan-Revolution sei das Härteste, was uns passieren könnte. Aber es war erst der Anfang. In der Museumsarbeit war die größte Veränderung, dass jegliche Zusammenarbeit mit russischen Museen abbrach. Kooperation mit russischen Ins­ti­tu­tio­nen wäre einer Kooperation mit deren Regierung gleichgekommen.

Welche Museumspolitik wird nun in den besetzten Gebieten gemacht? Wurden Sammlungen nach der Annexion nach Russland gebracht?

Leider ist es zurzeit unmöglich, mit Museen aus den besetzten Gebieten zusammenzuarbeiten, denn die Mitarbeiter dort sind in echter Gefahr. An unseren Onlinemeetings nehmen sie kaum teil. Auch wenn viele von ihnen bis zuletzt in ihren Museen geblieben sind, können sie jetzt nichts mehr tun. Ich weiß von einer Museumsmitarbeiterin, die von der neuen Fake-Administration gekidnappt wurde.

Werden dort auch neue Direktoren eingesetzt?

Vielleicht. Ich höre nur von Zerstörung. Allein aus Ma­riu­pol sind über 2.000 Kunstwerke gestohlen worden. Das Kuindschi-Kunstmuseum beherbergte die größte und wichtigste Sammlung von Archip Kuindschi, der in Mariupol geboren ist, einer der berühmtesten Maler der ukrainischen und russischen Kunstgeschichte. Sie haben vier Arbeiten von ihm gestohlen. Es gab einen Typen, der auf Insta­gram stolz Kuin­dschis Werk „Abendrot in ­Dnjepr“ gepostet hat, von dem sogar eine Version im Metropolitan Museum of Art in New York hängt. Er hat nur die Kommentarfunktion ausgeschaltet. „Wir haben es getan!“ Du stiehlst es und postest das auf Instagram? Es scheint das Einzige, was die russische Fake-Administration tun kann. Sie tun nichts, um die Stätten wieder aufzubauen. Sie zerstören und stehlen unsere Kultur, wollen sie in Besitz nehmen, lassen die Ruinen zurück.

Was ist mit den Mu­se­ums­mit­ar­bei­te­r:in­nen geschehen?

Für Russland sind die gefährlichsten Menschen in der Ukrai­ne momentan die Kulturleute. Ich kenne so viele traurige Geschichten. Leute, die direkt aus Schulen gekidnappt wurden. Schulen, die in Gefängnisse verwandelt wurden. Bücher aus den Bibliotheken, über ukrainische Identität und Geschichte, die verbrannt wurden. Sie versuchen, die Geschichtsschreibung zu verändern. In neuen russischen Geschichtsbüchern kann man die Information über die Kiewer Rus nicht mehr finden. Sie nennen es nur noch Rus. Dabei hat alles auf der Kiewer Rus begonnen. Kiew war die älteste Stadt Osteuropas, der Beginn der slawischen Zivilisation. Ukrai­ner in den besetzten Gebieten leben in einer Art „1984“-Dystopie, in diesem surrealen Horror-Orwell-Universum, dort, wo Russen ihre Flaggen pflanzen und meinen, sie würden für immer dort bleiben. Wir wissen nicht, wie es in den besetzten Gebieten aussieht. Kaum zu glauben, dass manche so mutig waren, zu demonstrieren oder in den Partisanenkampf zu gehen.

Yulia Berdiiarova, 28, arbeitete noch bis vor Kurzem in Odessa am Fine Arts Museum und in Kyiv am Mystetskyi Arsenal. Als der Krieg begann, floh sie nach Köln und ist nun für ein Jahr am Museum Ludwig angestellt. Forschungsschwerpunkt der Kunstwissenschaftlerin ist die ukrainische Moderne.

Wie sind Sie ans Museum Ludwig in Köln gekommen? Was können Sie hier tun?

Nach vier Monaten in Odessa bin ich nach Polen geflohen, bin durch Europa gereist, habe viele Kol­le­g*in­nen besucht, war in Berlin. Ukrainische Kollegen schickten mir das Angebot der Ernst-Siemens-Stiftung, ein Programm für ukrainische Kulturarbeiter. Ein Netzwerkkollege erzählte mir vom Ausstellungsprojekt des Ludwig über die ukrainische Moderne, brachte mich mit der Kuratorin Rita Kersting zusammen.

Jetzt bin ich seit zwei Monaten hier und arbeite ein Jahr lang an der Vorbereitung der Ausstellung. Gleichzeitig arbeite ich an einem Verzeichnis aller ukrainischen Künst­le­r:in­nen in europäischen Sammlungen. Diese große Liste wird in Zukunft sehr hilfreich sein. Ich hoffe, eines Tages werden wir einige der Werke in der Ukraine zeigen können, um zu sehen, wie divers ukrainische Kunstgeschichte ist, wie viele Museen der Welt unsere Geschichte repräsentieren.

Und was jetzt wirklich wichtig ist: ukrainische Moderne von russischer Avantgarde zu trennen. Alles wurde in einen Topf geworfen. Jetzt holen wir manche Künst­le­r:in aus diesem Topf und trennen sie voneinander. Wir etablieren die ukrainischen Schreibweisen der Namen, ihre Geburtsorte. „Kyev“ zum Beispiel ist die richtige Schreibweise der ukrainischen Hauptstadt. Als „Kiew“ präsentiert man die Stadt, als sei sie russisch.

Ein politischer Akt durch Sprache: Sie erzählen europäischen Museen, wie sie korrekt Ukrainisch schreiben sollen?

Ich diskutiere viel mit internationalen Museen. Mit meinen Kollegen haben wir einen offiziellen Brief an das Metropolitan geschrieben, um sie zu bitten, in ihrer Datenbank die Nationalität des Ukrainers Archip Kuin­dschi zu ändern. In ihren Archiven ist er ein russischer Künstler. Das ist gerade jetzt extrem wichtig. Sein Erbe ist bedroht, da seine Geburtsstadt Mariupol komplett zerstört ist. Wir können vielleicht nicht alle ukrai­nischen Kunstwerke retten, aber wir können die Informationen über sie schützen.

Bringt es etwas, von weit weg um den Erhalt des ukrainischen Kulturerbes zu kämpfen?

Ja, unbedingt. Es fühlt sich an, als sei ein neues Zeitalter ukrai­nischer Repräsentation angebrochen. Es ist nur so unglaublich traurig, dass es dafür Krieg geben musste. Erst wenn alles, was du liebst, in Gefahr ist, verstehst du, wie viel du zu verlieren hast.

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