Moskaus neues Jüdisches Museum: Die Zeit war reif
Das Museum erzählt mehr als eine tränenreiche Version der Juden in Russland. Mit Actionkino und 4-D vermittelt das Haus auch unbequeme Erkenntnisse.
MOSKAU taz | Die Finsternis dauert knapp zehn Minuten. Danach sind Schöpfungsgeschichte und alttestamentarische Prüfungen im filmischen Zeitraffer erzählt. Moskaus neuem Jüdischem Museum und Zentrum für Toleranz (JM) reicht jedoch eine einfache Erzählung nicht mehr. Ein Film in 4-D simuliert die Genesis und stellt biblische Heimsuchungen leibhaftig nach: Die vierte Dimension einer dreidimensionalen Stechfliege übernimmt eine Düse unterm Kinosessel, deren Luftstrahl das Insekt gefühlsecht über die Haut krabbeln lässt.
Die Sintflut spritzt mit Wasser und rüttelt am Gestühl. Unterdessen wird der Zweite Tempel zerstört und das jüdische Volk bricht endgültig in die Diaspora auf. Im Panoramakino geht wieder das Licht an und entlässt den Besucher in eine schillernde Multimedia-Show zur Geschichte der russischen Juden. Eine im europäischen Vergleich kurze Geschichte, die erst im 18. Jahrhundert nach den Teilungen Polens begann. Damals schluckte Russland mit dem westlichen Nachbarn auch die größte jüdische Volksgruppe Europas.
Die Geschichte der russischen Juden wurde in Russland noch nie zusammenhängend erzählt. Lange blieb sie von Staats wegen dem Diktat politischer Konjunkturen unterworfen. Kollektive Erinnerungen hingegen machten sich an Pogromen und staatlichem Antisemitismus fest.
Die „tränenreiche Version der jüdischen Geschichte“ (Salo Wittmayer Baron, jüdischer Historiker) überwog in der Erinnerung und klammerte die alltägliche Interaktion zwischen Juden und Nichtjuden aus. Diesen engen Blickwinkel zu vermeiden, ist wichtig im Konzept des Museums.
Hier soll auch das Banale, Alltägliche und Lebensweltliche zu Wort kommen, nach dem Vorbild eines Romans von Marek Edelman „ Liebe im Ghetto“. Statt am Mythos jüdischer Unterlegenheit weiterzuwirken, sollen Wechselwirkung und Gemeinsames in der Geschichte beleuchtet werden.
Boruch Gorin ist ein Sprecher der jüdischen Gemeinden Russlands und ein Mitbegründer des Museums. Er geht noch weiter: Eigentlich sei das JM ein Ort genuin russischer Geschichte, denn ohne den jüdischen Beitrag sei diese undenkbar, meint der Kommunikationschef des JM. Zumal die jüdische Bevölkerung mit Russland – trotz aller Tragik – enger verwoben war als jüdische Minderheiten in anderen Staaten.
Böse und gute Engel
Neben den Opfern gebe es auch Fadenzieher, böse wie gute Engel, sagt Gorin. Diesem Leitmotiv ist auch der wissenschaftliche Zugang verpflichtet: Die Ausstellung will einen Beitrag leisten zu einer bisher noch ausstehenden integrierten Geschichte der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen. Wer nach klaren Antworten sucht, findet sie in der Ausstellung nicht. Er nimmt nur Fragen mit.
Darauf hatte sich die Kommission der acht verantwortlichen Historiker aus den USA, Russland, England und Israel vorab verständigt und daran auch in der sechsjährigen Vorbereitungszeit nicht mehr gerüttelt.
20 Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus schien auch in Moskau die Zeit für eine Würdigung des russischen Judentums reif. „Die Tatsache, dass das Museum existiert, beweist die Bereitschaft des Kremls, einige dunklere Aspekte der jüdischen Erfahrungen in Russland anzuerkennen und sich darüber hinauszubewegen“, meinte der Historiker Benjamin Nathans von der University of Pennsylvania, der am Konzept mitwirkte.
Seit 1990 hat der Kreml zum ersten Mal für längere Zeit darauf verzichtet, Antisemitismus als politisches Ventil zu instrumentalisieren. Präsident Wladimir Putin stiftete sogar einen Monatslohn für das JM, dessen Finanzierung vor allem die Oligarchen Wiktor Wechselberg und Roman Abramowitsch übernahmen. Bislang sicherte das die konzeptionelle Unabhängigkeit.
Die Ausstellung verteilt sich auf 8.500 Quadratmeter in einem Gebäude, das der konstruktivistische Architekt Konstantin Melnikow 1927 als Busdepot entworfen hatte. 90 Prozent des Materials sind auf Bildschirmen abrufbar oder als Videoinstallationen montiert. Historische Exponate hingegen sind rar.
Der Rundgang durch das JM beginnt in den Kulissen eines Schtetls im sogenannten Ansiedlungsrayon. Nur dort durften sich nach einem Erlass der Zarin Katharina der Großen 1791 Juden niederlassen. Im Schtetl schlüpft ein neugieriger Besucher in die digitalen Kluften eines Rabbis, Handwerkers oder Lehrers. Auch dem Schabbat-Abendessen einer Familie kann man beiwohnen.
In einem Cafe Odessas – knapp 100 Jahre später – trifft der Besucher auf das erwachte intellektuelle Leben einer inzwischen stark jüdisch geprägten Großstadt. Pappmaché-Intellektuelle verheddern sich in der Aufbruchszeit in einem unentwirrbaren Stimmengemenge.
Halb Davidstern, halb Roter Stern
Jahre der Revolution und des Bürgerkrieges folgen, ein in weiten Teilen der russischen Öffentlichkeit umstrittenes Kapitel, das ein Stern an der Decke versinnbildlicht: halb Davidstern, halb Roter Stern. Dahinter die Frage: Warum gehörten so viele Juden zu den Wortführern der Bolschewiki?
Die meisten hatten gar keine Wahl. Die Frage Rot oder Weiß stellte sich so gar nicht, weil es auf die Entscheidung Leben oder Tod hinausgelaufen wäre. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Juden den Bolschewiki gefolgt wären. Solchen Mythen will die Ausstellung entgegenwirken.
Einerseits gab es die Blüte der sowjetischen Wissenschaft, in der jüdische Akademiker überproportional vertreten waren, andererseits beschränkten Quoten den Zugang zur Universität. Erstmals um die Jahrhundertwende, später in den 1960er Jahren, als Juden den höchsten Bildungsstand unter den sowjetischen Völkern erreicht hatten. Die Ambivalenz des Staates zwang dem fast assimilierten Juden eine jüdische Identität durch Ausgrenzung auf.
Höhepunkt der Ausstellung ist der „Große Vaterländische Krieg“, der in jüngster Zeit als patriotische Klammer gegen Fakten immunisiert wurde. Unbestritten war es die Rote Armee, die auf ihrem Weg nach Berlin die Insassen der KZs befreite. Dem steht indes noch eine andere Erfahrung gegenüber: die Kollaboration in den besetzten Gebieten.
Die Legende der Exponate nennt es „Vorspiel des Holocausts“. Auch die halbe Million Rotarmisten und der jüdische Beitrag zur Kriegsmaschinerie, die zu keiner Zeit in den offiziellen sowjetischen oder russischen Triumphdiskurs aufgenommen wurden, werden selbstbewusst benannt. Der Tabubruch ist eine Gratwanderung. Wer wusste schon vom Verbot, des Holocaust nach dem Krieg in der Sowjetunion zu gedenken, oder dass jüdische Mahnmale in sowjetische umgewidmet wurden?
Der Antisemitismus der Nachkriegszeit
Unfassbares manifestiert sich aufs Neue: Die Welt erstarrte noch vor den Gräueln des Genozids, als in Moskau schon wieder antisemitische Umtriebe wüteten. Nach der Demontage des Eisernen Vorhangs 1991 wanderte die Mehrzahl aller Juden aus. Fast eine Million emigrierte allein nach Israel, Hunderttausende zog es in die USA oder auch nach Deutschland.
Die Zeit des Um- und Aufbruchs der 1990er in Russland übergeht die Ausstellung jedoch. Wahrscheinlich sind es die noch zu große Nähe zur Gegenwart und die komplizierte politische Gemengelage. Nach der Stunde null 1991 formierte sich eine neue Wirtschaftselite, der auch viele Juden angehören. Präsident Wladimir Putin ist kein Antisemit, sein prominentester Häftling, Ex-Yukos Eigentümer Michail Chodorkowski, stammt jedoch aus einer jüdischen Familie – wie so manch anderer, der in Ungnade fiel.
Seit die Ausstellung Ende letzten Jahres eröffnet wurde, kommen bis zu dreitausend Besucher an Wochenenden, an Werktagen sind es zwei-, dreihundert. Die Museumsmacher sind über den regen Zuspruch sogar ein wenig überrascht. Vor allem über die vielen jungen Leute ohne jüdischen Hintergrund, die Interesse an der gemeinsamen Geschichte zeigen. Das Museum sei von der Bevölkerung sehr gut angenommen worden, meint Baruch Gorin.
Ein wenig verwundert das schon. Zwar ist Antisemitismus als fester Bestandteil russischer Politik nach dem Kommunismus verschwunden, latente Vorbehalte haben in der kollektiven Psyche indes überlebt. Daran änderte auch der massenhafte Exodus der jüdischen Bevölkerung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nichts.
Und davon zeugt nach wie vor die Schwemme antisemitischer Literatur in den Buchläden. Inzwischen hätten aber Moslems aus dem Nordkaukasus und zentralasiatische Gastarbeiter die klassische Rolle des jüdischen Sündenbocks übernommen, sagt Gorin.
Selbst Nationalisten und Chauvinisten, von Haus aus notorische Antisemiten, besuchen die Ausstellung regelmäßig. Das dem Museum angegliederte Zentrum für Toleranz verfolgt die Diskussionen dieser Szene danach in den einschlägigen Blogs. „Manche unbequeme Erkenntnis bleibt tatsächlich hängen“, staunt Gorin. Toleranz sei jedoch nach wie vor eine knappe Ressource.
Vor allem Schulklassen besuchen das Zentrum, das mit sozialpsychologischen Tests, Videos, Interviews und Filmen für mehr Akzeptanz des Andersseins wirbt. Mittlerweile wieder ein heikles Unternehmen, da der Kreml gegen alles mobilmacht, was nicht in seine Norm passen will.
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