Mordprozess im Fall Lübcke: Gegen den Hass
Vor gut einem Jahr wurde CDU-Politiker Walter Lübcke ermordet, am Dienstag beginnt der Prozess. Der Versuch einer Rekonstruktion.
A m Dienstag werden sie sich gegenübersitzen. Im Saal 165 des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main. Auf der einen Seite Irmgard Braun-Lübcke, Christoph und Jan-Hendrik Lübcke und Ahmad E. Auf der anderen Seite: Stephan Ernst und Markus H. Es wird eine erste direkte Begegnung. Und für die Lübckes und Ahmad E. eine wohl kaum erträgliche.
Denn Stephan Ernst, ein 46-jähriger Rechtsextremist, soll vor gut einem Jahr Walter Lübcke erschossen haben. Den Ehemann von Irmgard Braun-Lübcke, den Vater von Christoph und Jan-Hendrik Lübcke, den Kasseler Regierungspräsidenten und CDU-Politiker. Die Tat geschah vor dessen Haus im hessischen Wolfhagen-Istha, einem 850-Einwohner-Dorf, in der Nacht zum 2. Juni 2019. Markus H. soll ihn in seinem Mordplan bestärkt haben.
Der Mord war ein Fanal: Erstmals im Nachkriegsdeutschland wurde ein Politiker offenbar von einem Rechtsextremisten erschossen. Bereits Monate zuvor soll Ernst zudem Ahmad E., einen irakischen Asylsuchenden, niedergestochen haben. E. wurde dabei schwer verletzt.
„Wir wollen den angeklagten mutmaßlichen Tätern in die Augen sehen, auch wenn wir wissen, dass dies sicher mit schweren emotionalen Belastungen einhergeht“, erklärte die Lübcke-Familie vor dem Prozess öffentlich. „Auch das sind wir meinem Ehemann und unserem Vater schuldig, den wir aufs Schmerzlichste vermissen.“
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Dies war eine der raren Stellungnahmen der Lübckes. Nach dem Mord zog sich die Familie aus der Öffentlichkeit zurück, bat Medien um Abstand. Die Söhne, Anfang dreißig, gehen ihrer Arbeit als Geschäftsführer einer Solarenergiefirma nach. Irmgard Braun-Lübcke ist pensionierte Abteilungsleiterin einer Berufsfachschule. Bis heute steht vor ihrem Haus regelmäßig ein Polizeiwagen zum Schutz. Nichts könne den Schmerz über den Tod ihres Mannes und Vaters nehmen, schreibt die Familie. „Die Wunde wird sicher nie wirklich vernarben.“
Ein politischer Kampf
Aber so zurückgezogen, wie es scheint, ist die Familie nicht. Denn auch sie führt inzwischen einen politischen Kampf. Einen gegen den Hass. Einen, der das Engagement ihres Ehemanns und Vaters fortführt.
Vor knapp zwei Wochen standen Irmgard Braun-Lübcke, Christoph und Jan-Hendrik Lübcke vor einem schlichten hellen Holzkreuz auf dem Friedhof in Istha, am Grab von Walter Lübcke. Es war der erste Jahrestag der Ermordung, das Dorf hatte eine Gedenkfeier organisiert, nur für sich, ohne Medien. Vereinsmitglieder waren gekommen, Ortsbeiräte, der Posaunenchor, rund 50 Menschen. Pfarrer Wolfgang Hanske hielt eine Ansprache, die Sonne schien. Am Nachmittag kam auch Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier zu dem Grab.
Jan-Hendrik Lübcke
Hanske, im Ort seit gut 30 Jahren evangelischer Pfarrer, berichtet, wie „absolut präsent“ der Mord an Walter Lübcke weiter in Istha ist. Der 65-Jährige sei „sehr nahbar“ gewesen, immer zu einem Plausch aufgelegt, nie abgehoben. Freunde beschreiben Lübcke als Mann mit klaren Grundsätzen, festem Glauben und Witz. Einer, der die Menschen mochte. Der sich bis zuletzt „der Junge vom Dorf“ nannte. Obwohl er auch promovierter Ökonom war, zehn Jahre Landtagsabgeordneter, danach Regierungspräsident.
Hanske betreut die Lübckes bis heute als Seelsorger, sie sind fester Teil seiner Gemeinde. Über diese Arbeit spricht der Pfarrer nicht. Wenn man seine Sinne zusammennimmt, sagt er, könne man sich aber ausmalen, wie es einer Familie gehe, deren Ehemann und Vater nicht eine Krankheit oder das Alter aus dem Leben riss, sondern der Hass eines Fremden.
Die Familie Lübcke selbst äußerte sich an dem Gedenktag nicht öffentlich. Anders als noch vor einem Jahr. Wenige Tage nach dem Mord, beim Trauergottesdienst in der Kasseler Martinskirche, trat überraschend Christoph Lübcke nach vorn. Im Protokoll war dies nicht notiert. Der ältere der Söhne sprach direkt neben dem Sarg, die Tat war damals noch unaufgeklärt, ganz still war es da in der Kirche.
„Lieber Papa“
„Lieber Papa“, sagte Christoph Lübcke mit brüchiger Stimme. Man habe doch noch so viele gemeinsame Pläne gehabt. „Deine Enkel wirst du nicht, wie uns, zur Schule fahren. Und nicht dein Leibgericht, deine berühmte Schweinepampe, für sie kochen.“ Christoph Lübcke dankte seinem Vater für die „große Liebe“ und die Ideale, die er ihnen vermittelt habe. „Wir werden deinen Enkeln von ihrem Opa immer wieder erzählen.“
Es gab noch einen zweiten Auftritt, ein halbes Jahr später, im Wiesbadener Kurhaus. Dort wurde Walter Lübcke posthum die Wilhelm-Leuschner-Medaille verliehen, die höchste Ehrung Hessens. Nun sprach Jan-Hendrik Lübcke. Er war es, der seinen Vater damals erschossen im Gartenstuhl auf der Terrasse fand.
Immer wieder stockte ihm die Stimme, aber unter die Trauer mischte sich auch ein politischer Appell. Denn der Sohn erinnerte an die christlichen Werte seines Vaters, dessen freiheitliche Überzeugung und daran, dass er „ein Mann des klaren Wortes“ war. So auch im Oktober 2015, als Walter Lübcke auf einer Bürgerversammlung in Kassel-Lohfelden für die Unterbringung von Geflüchteten warb. Ein Einsatz, der ihn das Leben kostete. „Ein feiger, hinterhältiger Mord“, sagte Jan-Hendrik Lübcke.
Umso schwerer falle es seiner Familie zu sehen, „wie der Extremismus wieder Raum in Deutschland findet und die Extremisten ihr verirrtes Denken ungeschönt in die Öffentlichkeit grölen“, fuhr der Sohn fort. „Im Sinne unseres Vaters ist es unser aller Auftrag, diesem schrecklichen Ungeist entgegenzuwirken. Die Unkultur der Hetze und Diffamierung darf sich nicht verfestigen.“ Im Saal brandete Applaus auf.
Es ist dieser Ungeist, über den ab Dienstag nun vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main verhandelt wird. Es wird ein Großprozess mit internationaler Beachtung. Sechzig Medienplätze hält das Gericht vor. Im Saal werden Richter, Anwälte und Zuschauer wegen der Coronapandemie mit Plexiglasscheiben voneinander getrennt. Um hineinzukommen, werden sich BesucherInnen schon sehr früh vor dem Eingangsportal anstellen müssen, unterhalb der Inschrift „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.
Verteidiger mit Krawallpotenzial
Wie würdevoll es drinnen zugehen wird, ist unklar. Die Verteidiger jedenfalls haben Krawallpotenzial. Frank Hannig, der Anwalt von Stephan Ernst, ist einschlägig bekannt: Der Dresdner gilt als pegidanah, trat dort mal als Redner auf. Schon vor dem Prozess suchte er die Öffentlichkeit, lud zu einer Pressekonferenz, veröffentlicht regelmäßig Videostatements zum Fall. „Die Wahrheit ist vielleicht deutlich komplizierter“, raunt Hannig dort. „Es wird ein langer Prozess.“
An die Seite geholt hat er sich ausgerechnet den NSU-Nebenklageanwalt Mustafa Kaplan. Jeder Angeklagte habe Anspruch auf eine bestmögliche Verteidigung, sagt Kaplan dazu. „Wäre es nicht heuchlerisch, rechtsstaatliche Verfahren nur für Angeklagte einzufordern, denen man sich vielleicht politisch nahe fühlt?“ Und Kaplan kündigt an, dass sich Ernst im Prozess – anders als noch vor den Ermittlern – „zunächst schweigend verteidigen wird“.
Die Verteidiger von Markus H. kommen dagegen direkt aus der rechten Szene. Der Düsseldorfer Björn Clemens war früher bei den Republikanern aktiv. Die Baden-Württembergerin Nicole Schneiders war bei der NPD und vertrat zuletzt den NSU-Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben. Clemens sagt, für eine Tatbeteiligung seines Mandanten gebe es keine Beweise, das Verfahren sei politisch aufgeladen. Nach bisheriger Aktenlage könne es nur einen Freispruch geben.
Der Frankfurter Holger Matt, der Anwalt der Lübckes, die als Nebenkläger am Prozess teilnehmen, sagt, er sei auf alles vorbereitet. Es gehe der Familie Lübcke in dem Prozess um die Aufklärung des Verbrechens und die Verurteilung der schuldigen Täter und Beteiligten. Matt spricht von einem „kaltblütig geplanten, heimtückisch begangenen Mord“. Und er nennt auch ein symbolisches Ziel der Nebenklage: ein „aufrechtes Eintreten für den Rechtsstaat“. So, wie es Walter Lübcke getan habe.
Die Tat schien aufgeklärt
Zwei Wochen hatte es im Juni 2019 gedauert, bis die Ermittler auf Stephan Ernst stießen – sie hatten zwei DNA-Spuren von ihm auf dem Hemd des getöteten Walter Lübcke gefunden. Dann ging alles ganz schnell. Ernst, gelernter Industriemechaniker und seit Jugendtagen Rechtsextremist, gestand die Tat und führte die Ermittler zu der Tatwaffe, einem Rossi-Revolver, den er mit sechs weiteren Pistolen und Gewehren sowie 1.402 Schuss Munition in einem Erddepot bei seinem Arbeitgeber, einem Kasseler Bahntechnikhersteller, vergraben hatte.
Und er benannte zwei Helfer: den Verkäufer des Rossi-Revolvers, ein Trödelhändler aus NRW, und seinen Freund Markus H., ein Zeitarbeiter, ebenfalls Rechtsextremist aus Kassel, 44 Jahre. Die Tat schien aufgeklärt.
Auch ein Motiv nannte Ernst den Ermittlern in seinem vierstündigen Geständnis: der Auftritt von Walter Lübcke auf der Bürgerversammlung in Lohfelden. Für den CDU-Mann war es eine Versammlung von vielen. Tausende Geflüchtete kamen damals täglich nach Deutschland, als Regierungspräsident ließ Lübcke im Raum Kassel 24 Aufnahmeeinrichtungen errichten, teils gegen Proteste. Er schickte keine Mitarbeiter vor, er informierte selbst.
In Lohfelden aber waren Rechte auf Stunk aus. Anhänger des Kasseler Pegida-Ablegers störten mit Zwischenrufen. Ganz hinten saß auch Stephan Ernst, der in Lohfelden wohnt, neben ihm Markus H., der mit seinem Handy filmte. Irgendwann reichte es Walter Lübcke. „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben“, rief der CDU-Mann. „Und da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen.“ Buhrufe ertönten im Saal. „Ich glaub’s nicht!“, schrie Stephan Ernst. „Verschwinde!“
Ein Hang zur Gewalt
Er sei damals außer sich gewesen, erzählte Ernst den Ermittlern. Seiner Mutter schrieb er eine Nachricht über die Versammlung, ätzte über „diesen Abschaum von Volksverrätern“. Auch Markus H. soll laut seiner damaligen Freundin gesagt haben, man müsse Lübcke erhängen. Dann stellte er unter dem Pseudonym „Professor Moriatti“ die Videosequenz von Lübckes Ausspruch auf Youtube. Das Video verbreitete sich in der rechten Szene, eine erste Welle von Hass erreichte Lübcke. Und Stephan Ernst verstieg sich offenbar in seinen Mordplan.
Ernst hat einen Hang zur Gewalt. Schon 1989, als 16-Jähriger, versuchte er ein von Migranten bewohntes Haus in Hessen in Brand zu setzen. Später stach er in einer öffentlichen Toilette mit einem Messer einen Migranten nieder, der ihn „angeekelt“ habe. Ein Jahr darauf zündete er eine Rohrbombe in einem Auto vor einer Asylunterkunft. Noch in Haft attackiert er einen Migranten mit einem eisernen Stuhlbein. Die Sicherheitsbehörden führten Ernst damals als „extrem gewalttätig“.
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Und Ernst blieb auch nach einer sechsjährigen Haftstrafe der Szene treu. Anfang der 2000er Jahre wird er Teil der NPD und der Kasseler Kameradschaftsszene – und trifft hier auf Markus H. Auch er ist bereits seit den Neunzigern in der Szene aktiv, im Umfeld der rechtsextremen Kleinpartei FAP. Über Jahre besuchen beide Männer Szeneaufmärsche. Im Jahr 2009 fahren sie auch nach Dortmund. Dort greifen Neonazis eine DGB-Kundgebung an, auch Ernst soll einen Stein auf einen Polizisten geworfen haben, er wird zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Und nun zieht er sich, scheinbar, zurück.
Ernst ist inzwischen verheiratet, hat zwei kleine Kinder, wohnt in Lohfelden in einem kleinen Haus mit Spitzgiebel. Den heutigen Ermittlern nannte er für seinen Rückzug auch als Grund, dass ein Kamerad auf der Demofahrt nach Dortmund seine Ehefrau beleidigt habe. Tatsächlich verliert der Verfassungsschutz Ernst damals aus dem Blick. Aber dessen Gedankengut bleibt. Noch 2011 nimmt er an einer rechten Sonnenwendfeier in Thüringen teil. Im selben Jahr kommt in seine Firma ein neuer Zeitarbeiter und alter Bekannter: Markus H. Eine Freundschaft entsteht – und eine erneute Radikalisierung.
Laut Ermittlern sollen beide Männer über einen Bürgerkrieg fabuliert haben, über eine „Ausrottung der Deutschen“. Tonangebend sei Markus H. gewesen. Dieser verkauft Ernst schließlich eine Schrotflinte, nimmt ihn mit zu Schießübungen in den Wald und in zwei Schützenvereine. Die Männer besuchen ab 2016 auch wieder rechte Aufmärsche, diesmal von der AfD, von Björn Höcke in Thüringen oder in Chemnitz. Einen Ausstieg aus der Szene? Hat es nicht gegeben.
Ernst erzählt den Ermittlern, dass „Schlüsselereignisse“ seinen Hass immer weiter befeuert hätten. Die Kölner Silvesternacht, der islamistische Anschlag von Nizza, die Ermordung zweier Rucksacktouristinnen in Marokko. Für all das habe er auch Lübcke und dessen Politik verantwortlich gemacht. Unter dem Alias „Game over“ schrieb Ernst im Internet: „Schluss mit reden! Es gibt tausend Gründe zu handeln und nur noch einen, ‚nichts‘ zu tun, Feigheit.“
Ein nachträglicher Schock
Zu dieser Zeit kommt Stephan Ernst der Lübcke-Familie schon einmal ganz nahe – ohne dass diese es weiß. Denn bereits ab 2016 soll der Rechtsextremist das Haus der Lübckes an Wochenenden ausgespäht haben. Mit einer Dashcam in seinem Auto filmte er das Grundstück, später auch mit einer Wärmebildkamera. Für die Familie dürfte dies ein nachträglicher Schock sein. Ihr Anwalt Holger Matt sagt dazu nur: „Jede neue Nachricht, die zur Mordtat bekannt wird, wühlt die Familie auf und belastet sie.“
Auch während der Weizenkirmes im Mai 2017, dem alljährlichen Dorffest, mitorganisiert von den Lübcke-Söhnen, soll Ernst mit seinem Rossi-Revolver zum Haus gefahren sein, ebenso im Folgejahr. Schon damals, so gestand er, sei er nur drei Meter von Walter Lübcke entfernt versteckt gewesen, habe es aber noch nicht vollbracht, abzudrücken. Dass die Dorfbewohner feierten, während überall Leute sterben, habe ihn zusätzlich aufgeregt, schilderte Ernst den Ermittlern seine Gedanken. Er habe gewollt, dass der Terror zu ihnen kommt.
Dies geschah in der Nacht zum 2. Juni 2019. Wieder war Weizenkirmes in Istha, wieder fuhr Ernst laut Geständnis zum Lübcke-Haus. Zwanzig Minuten habe er im Dunkeln auf der benachbarten Pferdekoppel gehockt und bereits wieder umkehren wollen, als er gegen 23.20 Uhr plötzlich das leuchtende Display von Lübckes Tablet auf der Terrasse gesehen haben – der 65-Jährige hatte sich zum Rauchen auf den Gartenstuhl gesetzt.
Ernst sei nun durch einen Weidezaun gestiegen, habe sich aufs Grundstück geschlichen und aus gut einem Meter Entfernung Lübcke mit einem Kopfschuss getötet. Der Regierungspräsident habe noch seinen Schatten gesehen, aber nicht mehr reagieren können, sagte Ernst den Ermittlern. Nach dem Schuss soll er Lübcke angetippt haben und geflüchtet sein.
Noch am Folgetag ging Ernst mit seinem Sohn wie immer zum Bogenschießen. Am Abend löschte er zahlreiche Dateien auf seinem Computer, auch seine Threema-Chats mit Markus H., rund 250 Nachrichten. Gleiches tat der Neonazi-Freund. Dann ging Ernst zur Nachtschicht, vergrub dort seine Waffen, soll die Tatkleidung in einen Müllcontainer geworfen haben. Einen Kollegen bat Ernst noch um ein falsches Alibi, weil er „Scheiße gebaut“ habe. Es half nichts: Die Ermittler fanden später seine DNA-Spur am Tatort.
Feindeslisten und Vorsichtsregeln
Für die Bundesanwaltschaft ist der Lübcke-Mord das blutige Finale einer langen Radikalisierung von Stephan Ernst. Denn schon in den Jahren 2001 bis 2007 legte er Feindeslisten mit gut 60 Personen und Objekten im Raum Kassel an. Lübcke war nicht dabei, dafür aber andere Lokalpolitiker, Journalisten oder die jüdische Synagoge. „Antideutsche Kräfte“, wie Ernst schrieb. Er notierte sich auch „Vorsichtsregeln“, etwa: eine „lange Kontrolle und Beobachtung des Tatorts vor der Tatausführung“. Für die Ermittler sind diese ersten Ausspähungen eine „Blaupause“ für den Lübcke-Mord.
Allerdings: Im Juli 2019 widerrief Ernst sein Geständnis. Später bezichtigte er Markus H. des Mordes an Walter Lübcke. Gemeinsam sei man damals zu dem CDU-Politiker gefahren, um ihn „einzuschüchtern“. Markus H. habe dabei die Waffe getragen und Lübcke „versehentlich“ erschossen, als dieser sie verscheuchen wollte.
Die Ankläger aber glauben dieser Variante nicht: Die neuen Angaben seien widersprüchlich und entlang der Ermittlungsergebnisse konstruiert. Auch sei keine DNA von Markus H. am Tatort oder am Tatrevolver gefunden worden. Ihm wird indes eine psychische Beihilfe zum Mord vorgeworfen – weil er Ernst mit den Schießübungen und der Teilnahme an Demos in dessen Tatplan bestärkt habe.
Und es ist nicht die einzige Tat, über die nun das Oberlandesgericht verhandelt. Denn Stephan Ernst soll auch versucht haben, Ahmad E. zu töten, einen 26-jährigen Iraker, einst Schauspieler, 2015 geflohen vor dem „Islamischen Staat“ (IS). Die Tat geschah am 6. Januar 2016, an einem Tag, an dem Medien damals groß über die Kölner Silvesternacht berichteten. Stephan Ernst brachte auch diese Nachricht in Rage. In seinem Geständnis berichtete er, wie er an diesem Tag in Lohfelden Plakate der Grünen und SPD runtergerissen und einem Migranten zugerufen habe, man müsse ihm den Hals aufschneiden.
„Ein totales Drama“
Am Abend, gegen 21.30 Uhr, soll Ernst dann mit einem Fahrrad an ebenjener Geflüchtetenunterkunft vorbeigeradelt sein, über die Walter Lübcke ein Vierteljahr zuvor unterrichtet hatte. Ahmad E. kam dort gerade vom Zigarettenholen von einer Tankstelle zurück, als Ernst ihm etwas mit „Deutschland“ zugerufen und unvermittelt von hinten mit dem Messer in den Rücken gestochen haben soll.
Der Iraker erlitt eine mehrere Zentimeter tiefe Stichwunde, sein Rückenmark wurde verletzt, zwei Nervenstränge durchtrennt. Er schleppte sich noch auf die Straße, bis ein Autofahrer anhielt und ihm half. Zwei Monate lag er im Krankenhaus.
Auch hier blieb die Fahndung nach dem Täter zunächst erfolglos. Obwohl Ermittler damals sogar bei Stephan Ernst vorstellig wurden und sich sein Fahrrad zeigen ließen. Beweise aber fanden sie nicht, ebenso wenig anderswo. Ahmad E. jedoch vermutete früh eine rassistische Tat, wandte sich an Response, eine hessische Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt, gab dem Hessischen Rundfunk ein Interview. „Ich bin vor dem Tod geflüchtet und wäre hier beinah getötet worden“, sagte der Iraker dort.
Olivia Sarma, Leiterin von Response, erinnert sich: „Sein Eindruck war, dass die Ermittler ein rassistisches Motiv nicht ernst nahmen.“ Auch für Alexander Hoffmann, den Anwalt von Ahmad E., wurde nach rechts „nicht ernsthaft“ ermittelt, dafür umso intensiver in der Geflüchtetenunterkunft. Die Ermittlungen versandeten.
Erst als Stephan Ernst festgenommen wird und in seinem Geständnis über den 6. Januar 2016 spricht, wird die Polizei wieder hellhörig. Dann schreibt auch Response einen Brief an die Ermittler und benennt Ernst als möglichen Täter für den Angriff auf Ahmad E. Der Iraker bitte, dies zu prüfen. Die Polizei durchsucht darauf Ende Juli 2019 tatsächlich noch einmal das Haus von Stephan Ernst – und findet nun in einem Kellerregal ein Messer mit DNA-Spuren von Ahmad E. Ernst bestreitet die Messerattacke dennoch bis heute.
Wie die Lübckes redet auch Ahmad E. derzeit nicht mit Medien. „Er leidet bis heute unter den Verletzungen“, sagt sein Anwalt Hoffmann. Ahmad E. sei arbeitsunfähig, werde wohl nie wieder vollständig gesund. „Ein totales Drama.“ Olivia Sarma von Response sagt, es helfe Gewaltopfern, zumindest zu wissen, dass ein Täter nicht mehr frei herumlaufe – und ebenso sein Motiv zu kennen, um ihr Trauma verarbeiten zu können.
Für Hoffmann wäre eine Verurteilung von Ernst auch für die Messerattacke eine „Genugtuung“ für seinen Mandanten. „Endlich wäre das rassistische Tatmotiv anerkannt.“ Zudem will Hoffmann aufklären, in welche Neonazi-Netzwerke Ernst eingebunden war. „Hier sind noch einige Fragen offen.“
Gerechte Strafe
So ist tatsächlich ungeklärt, warum Walter Lübcke bereits auf einer Adressliste des NSU mit rund 10.000 Einträgen auftauchte, mit seiner Adresse und früheren Funktion als Landtagsabgeordneter. Auch sind noch Verbindungen zu Combat 18 zu klären, zu deren späterem Deutschlandchef Ernst Kontakt hatte. Oder zu den Identitären, denen Ernst bis 2019 mehrfach Spenden überwiesen haben soll.
Und auch zu Markus H. bleiben Fragen. Warum hatte er ein internes Papier der hessischen Polizeihochschule auf seinem Handy, zu Fahndungen bei „terroristischer Gewaltkriminalität von bundesweiter Bedeutung“? Und warum gab der hessische Verfassungsschutz Informationen über den Neonazi nicht an die Waffenbehörde Kassel weiter? Markus H. erlaubte dies 2015 Waffenbesitzkarte – und damit die Grundlage, die Schießübungen mit Stephan Ernst durchzuführen.
Die Lübckes erklären vor dem Prozess, ihnen gehe es dort um eine „gerechte Strafe“ für „denjenigen, der meinen Ehemann, unseren Vater auf dem Gewissen hat, und diejenigen, die ihn womöglich dabei unterstützt haben“. Es gehe aber auch um das politische Erbe von Walter Lübcke. „Hass und Ausgrenzung waren ihm fremd, und in diesem Geist wollen auch wir dafür eintreten, dass Hass und Gewalt keinen Platz in unserer Gesellschaft haben sollen“, schreibt die Familie. „Wir alle, die wir für unsere freiheitliche Demokratie eintreten, dürfen nicht verstummen, sondern müssen klar Position beziehen.“
Es ist jener Appell, den Jan-Hendrik Lübcke auch bei seiner Rede im Wiesbadener Kurhaus aussprach. Aber auch nach dem Attentat auf Walter Lübcke erfolgten Bedrohungen von PolitikerInnen, Schüsse auf einen Eritreer in Hessen, der Anschlag auf die Synagoge in Halle. Jan-Hendrik Lübcke war das nicht entgangen. Ganz am Ende seiner Rede blickte er damals in den Saal, dann zitierte er den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier: „Mehr noch als der Lärm von manchen besorgt mich das Schweigen von vielen anderen.“
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