Morde durch Rechtsextreme: Auf dem rechten Auge blind
Aktivisten und Journalisten aus Erfurt erinnern an Mordopfer rechter Gewalt. Sie wollen so die Kontinuität rechtsextremer Strukturen aufzeigen.
Eine Podcastreihe des Ungleich Magazins, eines jungen Onlinemagazins für lokale Kultur und Politik, will dies nun ändern und die Opfer von rechter Gewalt aus der Unsichtbarkeit holen. Grundlage für die beiden bisher von Samuel Helsper und Fabian Klaproth produzierten Folgen liefert die Arbeit von „Blinde Flecken Erfurt“, einer zivilgesellschaftlichen Initiative zur Aufarbeitung rechter Gewalt.
Die Gründer der „Blinde-Flecken“-Initiative, die Historiker Max Zarnojanczyk und Steven Lange, erfuhren durch ihr Studium an der Universität Erfurt von den Fällen und beschlossen, zunächst auf Instagram darüber aufzuklären und der Opfer zu gedenken. Dazu markieren sie die Tatorte am Todestag mit dem Schriftzug „@blinderfleck“, stellen vor Ort Kerzen auf und veröffentlichen auf der Social-Media-Plattform Fotos und kurze Texte über die Opfer und deren Todesumstände.
So wollen Lange und Zarnojanczyk aufzeigen, dass rechte Gewalt nur die Spitze des Eisbergs ist. „Unsere Arbeit soll sichtbar machen, dass Sexismus, Sozialchauvinismus, Nationalismus und Antisemitismus nicht nur eine Haltung der Rechten sind, sondern bis weit in die sogenannte Mitte hineinreichen und dort auch weitestgehend akzeptiert werden“, sagt Zarnojanczyk.
Die Gewalt ist wieder da – oder war nie weg
Es gehe dabei auch darum, einen Reflexionsprozess darüber anzuregen, dass sich die Taten der 1990er Jahre auch 30 Jahre später wiederholen – vielleicht nicht in Form der Tötungsdelikte der Baseballschlägerjahre, aber in Form von neuer Gewalt gegen Linke und Migrant*innen.
Eine weitere Motivation von „Blinde Flecken Erfurt“ sei es, Problematiken rechtsmotivierter Gewalt bei Sicherheitskräften und den fehlenden Aufklärungswillen der Polizei und Staatsanwaltschaft aufzudecken. „Mit dem Aufarbeiten von rechter Gewalt der 80er und 90er Jahre in Thüringen betreiben wir auch eine Art Recherche über Rechtsextremismus in der Zeit vor dem NSU – erinnern wie im Fall von Hartmut Balzke aber auch an spätere Fälle“, sagt Lange.
Die Fälle der Initiative arbeiten die Journalisten Helsper und Klaproth für die Podcasts des Ungleich Magazins weiter auf. Sie recherchieren, sprechen mit Anwälten, sichten Urteile und versuchen, diese politisch einzuordnen. Die erste Sendung, die sie produzierten, handelt vom Fall des polnischen Gastarbeiters Ireneusz Szyderski. Die zweite Folge behandelt den Tod von Hartmut Balzke.
In ihren Features, die unter ungleich-magazin.de/podcast abrufbar sind, versuchen die beiden Journalisten aufzuzeigen, wieso eine Beschäftigung mit den Fällen auch heute noch wichtig ist. „Es geht um die Kontinuitäten rechtsextremer Strukturen in Thüringen, die auch 28 Jahre nach dem Vorfall fortbestehen“, sagt Klaproth.
Vergessene Schicksale
August 1992: Ireneusz Szyderski feiert mit Freunden in einem Discozelt im Erfurter Stadtteil Stotternheim. Kurz vor Verlassen der Party will er noch einmal zur Toilette gehen. Die Freunde warten auf ihn. Drei Ordner, die laut Staatsanwaltschaft Erfurt der rechten Szene angehören, prügeln auf ihn ein. Schwer verletzt legen die Sicherheitsleute den Mann vor dem Zelt ab.
Szyderskis Freunde rufen ein Taxi und wollen ihn ins Krankenhaus bringen. Docher stirbt noch auf dem Weg dorthin. Vonseiten der Staatsanwaltschaft heißt es, dass massive Schläge auf Kopf und Rücken zum Tod geführt hätten.
Im Gerichtsverfahren spielen die rassistischen Beleidigungen gegen Szyderski kaum eine Rolle. Ein „ausländerfeindliches“ Motiv wird nicht bewiesen. Es wird jedoch angemerkt, dass der Hauptangeklagte, der Chef des Sicherheitspersonals, gut mit „ausländischen Kollegen“ zurechtkomme. Er wird vom Gericht als Einziger zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.
Ähnlich gelagert ist der Fall von Hartmut Balzke. Auch dieser wurde Opfer rechter Gewalt, doch sein Schicksal ist einer breiten Öffentlichkeit trotzdem nicht bekannt.
Behandelt wie Opfer zweiter Klasse
25. Januar 2003: Balzke begleitet seinen Sohn zu einer Punk-Party in Erfurt. Nach der Party werden sie in der Erfurter Trifftstraße von Neonazi Dirk Q. angegriffen. Beide erleiden schwere Kopfverletzungen. Hartmut Balzke stirbt zwei Tage später im Krankenhaus. Der Täter ist polizeibekannt und unter anderem wegen Zeigen des Hitlergrußes und Körperverletzung vorbestraft.
Auch im Fall Balzke will das Gericht keinen rechten Hintergrund erkennen. Beobachter des Prozesses sagen noch heute, man habe Balzke und seinen überlebenden Sohn wie Opfer zweiter Klasse behandelt.
Vielfach wurde im Nachgang auch das Vorgehen von Justiz und Polizei kritisiert. So sei bereits die Beweisfeststellung durch die Polizei fragwürdig gewesen. Beispielsweise sei erst einen Monat nach der Tat eine Hausdurchsuchung beim Tatverdächtigen angeordnet worden. Trotz der Schwere des Tatvorwurfs und einer laufenden Bewährung wird Dirk Q. nicht in Untersuchungshaft genommen. Auch seine Bewährung wird nicht widerrufen.
Auch hinsichtlich der Tatmotivation wird nicht ermittelt. Eine Nachfrage bei der Polizei Erfurt beantwortet ein Sprecher damit, dass keine Aussagen mehr zu den damaligen Ermittlungen getroffen werden können. Die Akten seien zehn Jahre nach der Tat vernichtet worden. Das Urteil, welches im Juni 2008, fünfeinhalb Jahre nach dem Angriff, gesprochen wird, fällt milde aus: zwei Jahre auf Bewährung.
Auch in den Medien herrschte Desinteresse
Frühere Taten wurden bei dem Urteil nicht berücksichtigt. Die zweite große Strafkammer kritisiert die enorme Dauer des Verfahrens. Dieses habe „rechtsstaatswidrig“ viel zu lange gedauert. Die Linksfraktion im Landtag fordert darüber hinaus, dass sich der Justizausschuss mit dem Fall befasst.
Für ihre Features besuchen Helsper und Klaproth die einstigen Tatorte. Sie suchen Stimmen von Menschen, die in Erfurt zu Hause sind und sich heute eventuell noch erinnern. Hier zeigt sich zwar deutlich, dass Erfurter beispielsweise wissen, wo einst das große Discozelt stand und mit wem sie dagewesen waren, an die Tötung eines Menschen aber können sie sich nicht erinnern.
Zarnojanczyk findet dafür folgende Erklärung: „Sowohl Balzke als auch Szyderski gehören zu sozialen Gruppen, die in der Gesellschaft nicht anerkannt sind.“ Laut Zarnojanczyk scheint es leichtzufallen, den polnischen Gastarbeiter und das arbeitslose Mitglied aus der Gemeinschaft herauszudenken. Dieses Muster zeige sich deutlich bei jedem dieser Fälle.
Auch die damalige Medienberichterstattung zeigt ein deutliches Desinteresse an den Opfern rechter Gewalt. So weisen nur wenige Zeitungsartikel auf die Taten hin. „Fälle wie die von Ireneusz Szyderski und Hartmut Balzke werden auch heute nicht ausreichend von Justiz und Gesellschaft gewürdigt“, findet Zarnojanczyk.
Parallelen zieht er zu einem Angriff von 15 Männern auf eine Gruppe Menschen im Hirschgarten vor der Erfurter Staatskanzlei im Juni 2020. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft ist ein Teil der Beschuldigten wegen rechtsmotivierter Straftaten polizeibekannt.
Dennoch will die Staatsanwaltschaft im weiteren Verlauf der Ermittlungen auch hier kein rechtsextremes Motiv erkannt haben. Mobit, eine mobile Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus, verurteilte das Nichtanerkennen eines rechtsmotivierten Tathintergrunds seitens der Ermittlungsbehörden scharf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen