Mobilität in Deutschland: 300 Jahre bis zu niederländischen Verhältnissen
Für den Radweg mit dem Kind durch Berlin empfiehlt unsere Kolumnistin Atemübungen. Neue Daten zur Mobiliät in Deutschland erträgt sie mit viel Tee.

D ie vierte Folge von „Mobilität in Deutschland“ ist raus. Die Serie lese ich seit ihrer Erstauflage 2002 mit Neugier. 9,3 Prozent der Alltagswege wurden damals mit dem Rad zurückgelegt. 2017 waren es 10,9 Prozent und aktuell – Tusch! – 11,3 Prozent. Ich machte mir erst mal einen Kamillentee. Aber auch mit ruhigem Atem wurde die Zahl nicht größer. 11,3 Prozent.
Wenn die Entwicklung weiter so forsch vorangeht, rechnete ich aus, würde es noch etwa 200 Jahre dauern, bis das Fahrrad in Deutschland dieselbe Bedeutung haben wird wie heute in den Niederlanden. Ich stellte mir 200 Jahre voller Diskussionen vor, ob Fahrradstraßen und Tempo 30 nicht Schikanen für Autofahrende seien und Radfahrende stattdessen lieber einen Helm und reflektierende Kleidung tragen müssten, um ihr Risiko zu mindern, totgefahren zu werden.
Ich bin jeden Tag mit dem Rad unterwegs. Alleine geht das noch. Richtig nervt der überall erlaubte Autoverkehr erst mit Nachwuchs: Wer Lust auf Stresstest pur hat, dem empfehle ich, ein Grundschulkind auf dem Rad zu begleiten. Am besten eignet sich ein Kind, dem man irgendwie verbunden ist, zum Beispiel die eigene Tochter oder der Enkelsohn. Planen Sie bitte nach jeder Tour einige Minuten für Atemübungen ein, um das Herz wieder in eine gesunde Frequenz zu bringen.
Alleine sind Kinder zu Fuß oder per Rad in Städten eigentlich nie zu sehen. Deshalb möchte ich einen Aufschrei nach bekanntem Auto-Muster vorschlagen: „Millionen Menschen in Deutschland sind auf das Fahrrad angewiesen! Ohne sichere Radwege müssen sie zeitraubende, umständliche Mitfahrgelegenheiten mit ihren Eltern organisieren!“
Kinder sind politisch egal
Unser Kind zum Beispiel geht ab September auf die weiterführende Schule. Die ist mit der Straßenbahn erreichbar – allerdings hat die BVG allein in diesem Jahr schon fünf Mal gestreikt. Wenn nicht gestreikt wird, hängen die Straßenbahnen regelmäßig hinter falsch parkenden oder stauenden Autos fest.
Könnte (m)ein dann Zehnjähriger die 7 Kilometer Schulweg nicht mit dem Rad fahren? Klar. Das würde langes Po-Platzsitzen in der Schule halbwegs kompensieren und wäre gesund. Wenn es eine Radinfrastruktur gäbe. Aktuell ist die Strecke leider dank Autoverkehr lebensgefährlich. Bedeutet für uns Eltern zukünftig Schulweg radeln – oder umziehen. Falls Sie was wissen: südliches Pankow, drei Zimmer, taz-Budget, ich würde mich über sachdienliche Mails riesig freuen!
Aber Kinder sind politisch egal – in wenigen Jahren sind die Mehrheit der Wähler sowieso Rentner. Allerdings geht im Alter die Rundumsicht flöten und das Reaktionsvermögen lässt nach. Der rüstige Rentner auf seinem E-Bike ist also genauso auf eine sichere Radinfrastruktur angewiesen, wie das verspielte Kind auf seinem 16-Zoll-Rad. Deshalb sterben ja auch überproportional viele alte Menschen als Fußgänger und Radfahrerinnen.
Der Bundesrat hat übrigens jüngst beschlossen, dass Tempo 30 vor Bildungseinrichtungen nicht rund um die Uhr gelten darf. Vielleicht braucht es bis zu niederländischen Verhältnissen doch eher 300 Jahre.
Zeit für viel Kamillentee.
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