Mitspracherecht der Parlamente: „Wir müssen Transparenz herstellen“
Die Stunde der Exekutive ist vorbei; das Abgeordnetenhaus muss wieder mehr mitreden bei der Coronakrise, fordert Torsten Schneider (SPD).
taz: Herr Schneider, die Parlamente müssten wach werden, die würden alle schlafen, haben Sie als wichtigster Finanzpolitiker der SPD-Fraktion vergangene Woche im Hauptausschuss gefordert. Was vermissen Sie?
Torsten Schneider: Die Parlamente haben ja nicht im sprichwörtlichen Sinne geschlafen, sondern der ebenso sprichwörtlichen Stunde der Exekutive den nötigen Raum eingeräumt …
... und war das nicht richtig?
Das war geboten. So haben es die Parlamente bundesweit gemacht. Das haben wir auch schon 2015 getan, als in Berlin täglich Flüchtlinge ankamen und auf die Schnelle viel Geld freizugeben war. Also kein Schlaf, sondern eine Verschiebung zum schnellen, effektiven Handeln.
Manche meinen: zu schnell – „zu forsch“ war jüngst die Wortwahl der Kanzlerin.
Eines muss klar sein: „Stunde der Exekutive“ bedeutet wirklich Stunde der Exekutive. Und nicht irgendein Schaulaufen zwischen Bayern und Nordrhein-Westfalen. Was Armin Laschet und Markus Söder...
... die Ministerpräsidenten der beiden Bundesländer...
Torsten Schneider
51, geboren in Wittenberg, ist Jurist und gehört seit 2006 dem Abgeordnetenhaus an. Seit 2011 prägt er als parlamentarischer Geschäftsführer die Arbeit der SPD-Fraktion an der Seite von Fraktionschef Raed Saleh.
... in den vergangenen Tagen beim Thema „wie groß darf eine zu öffnende Ladenfläche denn nun sein?“ abgeliefert haben, hat die Leute mehr verunsichert als Orientierung gegeben. Es ist aber fahrlässig, so zu tun, als sei bald wieder alles möglich.
Ihr Aufruf zum Wachwerden des Parlaments trifft ja auch Sie selbst: Sie sind dienstältester SPD-Mann im wichtigsten Ausschuss und parlamentarischer Geschäftsführer Ihrer Fraktion.
Der springende Punkt ist, dass wir jetzt, da wir keine Ad-hoc-Situation haben, in der es um Lebensrettung geht, wieder mehr Transparenz herstellen.
Was macht Sie da so sicher, dass wir aus einer solchen Situation raus sind?
Da halte ich es mit dem Regierenden Bürgermeister: Es ist nicht die Zeit für Besserwisser, sondern für Expertenwissen. Ich bin kein Virologe und kann die Frage nicht abschließend beantworten. Aber es spricht ja auch nichts dagegen, die Experten im Parlament anzuhören, transparent und öffentlich, statt hinter verschlossenen Türen in einer Senatssitzung.
Und dann hätte nicht der Senat, sondern das Parlament nach einer Expertenanhörung entscheiden können, beispielsweise über die Maskenpflicht, die seit Montag im Nahverkehr gilt?
Eine Regierung trifft ihre Entscheidungen vertraulich, die Schriftstücke dazu kriegen Sie nicht mal nach dem Informationsfreiheitsgesetz. Parlamente haben eine andere Funktion: Sie leben von Transparenz, von Offenheit. Wir sind nun in einer Phase, in der die Bürger einen neuen Überzeugungshorizont brauchen und nachvollziehen wollen, warum das eine so und das andere so entschieden wird. Da ist der Eilaspekt nicht mehr so im Vordergrund, und deshalb ist nun mehr Zeit, im Parlament zu beraten.
Parlament kommt ja auch vom französischen „parler“, sprechen oder reden. Aber unabhängig davon ist es ja auch eine Machtfrage: Seit gefühlt ewigen Zeiten streiten sich Parlamente und Regierungen, wie weit exekutives Handeln geht und wie viel Minister allein entscheiden dürfen. Deshalb das Beispiel Maskenpflicht: Hätte das das Parlament an sich ziehen können?
Dieser Streit ist tatsächlich uralt. Aber schon 1965 gab es ein Urteil, wonach Landesparlamente jede Entscheidung aufheben können. Und 1994 wurde nach einem Verfassungsgerichtsentscheid Artikel 80, Absatz 4 neu ins Grundgesetz eingefügt: Was Regierungen beschließen, könnten auch die Parlamente durch Landesgesetze regeln.
Was heißt denn nun Ihr Ruf nach dem „Wachwerden“ des Parlaments nach vorne gedacht, konkret für die nächste Plenarsitzung am Donnerstag, in der auch der Nachtragshaushalt eingebracht wird?
Meine Erwartung ist nicht, dass wir jetzt Rechtsverordnungen des Senats aufheben. Aber wir werden über diese Verordnungen zu reden haben. Da freue ich mich schon über eine parlamentarische Anhörung von Professor Drosten und anderen Experten.
Sie waren ja eigentlich einer von jenen, die zu Beginn der Coronakrise nach einem stark verkleinerten Notparlament riefen. Das stieß selbst in der rot-rot-grünen Koalition auf Kritik – die Rechte der einzelnen Abgeordneten würden damit zu sehr eingeschränkt – weshalb daraus bislang auch noch nichts geworden ist.
Wir hatten wegen früherer Aussagen zu einem höheren Infektionsgrad die Befürchtung, dass das Abgeordnetenhaus bald nicht mehr beschlussfähig sein könnte. Da schien eine Verkleinerung die bessere Lösung, als gar keine Beschlüsse mehr treffen zu können.
Andere Fraktionen, allen voran die FDP, meinen, das könne man auch digital machen.
Seit vergangener Woche ist durch ein Gutachten des wissenschaftlichen Parlamentsdienstes bestätigt, dass das Abgeordnetenhaus nur beschließen oder wählen kann, wenn mindestens mehr als die Hälfte der Mitglieder tatsächlich im Plenarsaal anwesend ist.
Ist die Diskussion über Parlamentssitzungen via Video damit erledigt? Im Europaparlament gab es das ja.
Das kann ich nicht abschließend einschätzen. Persönlich meine ich, dass es zum Wesensgehalt unserer parlamentarischen, repräsentativen Demokratie gehört, dass der Austausch im Parlament nachvollzogen werden kann. Grundsätzlich ging es mir nie um die Einschränkung der Rechte einzelner Abgeordneter, sondern genau um die Sicherung dieser Rechte.
Die drei Milliarden Euro für den Nachtragshaushalt entsprechen zehn Prozent des gesamten Landeshaushalts, haben Sie im Ausschuss vorgerechnet. Wobei Sie das ja schon von der Flüchtlingskrise 2015 kannten, als Sie – zumindest nach einer halblegendären Schilderung – an einem Seeufer standen und in einer Telefonschalte mit Ihren Haushälterkollegen ähnliche Summen freigaben.
Das stimmt so nicht. Das mit dem See zwar schon – da stand ich wirklich bloß mit einem DIN-A4-Zettel in der Hand. Aber wir lagen bei deutlich geringeren Summen: 2015 haben wir über 900 Millionen Euro geredet, jetzt sind es die besagten drei Milliarden Euro – und das wird ja noch viel mehr. Wenn zehn Prozent eines Haushalts bewegt werden ohne die übliche umfangreiche parlamentarische Diskussion darüber, dann wirft das klare Fragen der Kontrolle auf.
Na ja. Rein zahlenmäßig ist die Kontrollfunktion doch auch bescheiden. Zwar sagt jeder Senator in Richtung der Abgeordneten: „Sie sind der Haushaltsgesetzgeber.“ Tatsächlich aber verändert das Parlament auch in monatelangen Beratungen lediglich fünf Prozent des Haushaltsentwurfs eines Senats, ganz egal, welche Koalition gerade regiert.
Da haben Sie schon recht, und das sind ja nicht mal fünf Prozent. Die faktischen Verhältnisse allein würden das Wort vom Königsrecht des Parlaments nicht rechtfertigen. Aber es ist ja nicht so, dass die Regierung da frei schwebt – das wird ja vorher auch schon in der Fraktion besprochen, bevor der Entwurf im Senat beschlossen wird und ins Abgeordnetenhaus kommt.
Die strenge Gewaltenteilung, die vielleicht derzeit im Geschichts-Abitur Prüflinge Montesquieu zuzuordnen haben, gibt es ja in Berlin sowieso nicht: Fünf der elf Senatsmitglieder sind zugleich Abgeordnete; in den Senatssitzungen sitzen die Fraktionsvorsitzenden mit am Tisch, wenn auch ohne Stimmrecht, quasi „embedded“. Das hält auch nicht jeder Mensch einer Kontrolle für zuträglich.
Das ist Ihre persönliche Meinung, und es wird ja auch von Parlament zu Parlament verschieden gehalten. Natürlich wirft das Fragen der Abgrenzung und der Kontrolle auf. Aber SPD, Linke und Grüne sind ja die die Regierung tragenden, nicht sie kritisierenden Fraktionen. Das heißt nicht, dass wir nicht unsere Kontrollfunktion ausüben – wir machen das nur im Wesentlichen etwas leiser.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach