Mit dem Streetworker durch Berlin: Respekt für die harten Jungs
In Nordschöneberg heißt die Währung Respekt. Dass der nicht durch Gewalt erworben wird, will der Streetworker Noureddine Ykhlef den Kids beibringen.
BERLIN taz Vielleicht ist es mit der Hoffnungslosigkeit wie mit dem kalten Regen, der an diesem Abend unerbittlich fällt. Er durchnässt jede Jacke, durchdringt jede Naht, irgendwann merkt man gar nicht mehr, wie man vor Überdruss in den Schultern verkrampft. Im Berliner Stadtteil Nordschöneberg reicht ein kleiner Anlass, dass der Frust sich Wege sucht.
43 Prozent der Gewalttaten Jugendlicher in den Großstädten werden von Jugendlichen mit Migrationshintergrund begangen. Bundesweit sind es 27 Prozent, sagt der Kriminologe Christian Pfeiffer. Er arbeitet am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN), das eine der wenigen repräsentativen Studien zum Thema durchgeführt hat. Der Anteil der Migranten an den Jugendlichen insgesamt ist weit niedriger. Untersuchungen belegen, dass vor allem zwei Faktoren den Hang zur Gewalt begünstigen: Zuwanderer sind überdurchschnittlich häufig arbeitslos oder haben schlecht bezahlte Jobs, ihre Kinder landen auf der Hauptschule und haben kaum Zukunftsperspektiven. Zum Zweiten erziehen manche Väter in arabischen, türkischen oder russlanddeutschen Familien ihre Söhne autoritär - was spätere Gewalttätigkeit ebenfalls begünstigt.
Mit schnellen Schritten geht Noureddine Ykhlef durch sein Revier. Es ist die Gegend um das Pallasseum, einen Betonbau in Westberliner 70er-Jahre-Brutalarchitektur. In den 514 Wohnungen leben mehr als 2.000 Menschen. Hier ist Ykhlef Streetworker, seine Jobbeschreibung lautet: aufsuchende Jugendarbeit. Der 40-Jährige mit den breiten Schultern und dem schwarzen Haar trifft täglich jene Jugendlichen, über die seit Wochen diskutiert wird: junge Migranten, viele von ihnen harte Jungs.
"Hier verläuft die Grenze", sagt Ykhlef: Links liegt das Ausgehviertel mit teuren Cafés und einer bunten Schwulen- und Lesbenszene, rechts der Schöneberger Norden. 42 Prozent der hier lebenden Menschen sind laut dem aktuellen Bericht des Quartiersmanagements Ausländer, Deutsche mit Migrationshintergrund erfasst die Statistik nicht. Der Kiez ist jung, jeder Fünfte ist unter 18 Jahre alt.
Noureddine Ykhlef wurde in Algerien geboren, er spricht Deutsch, Französisch und, vor allem, Arabisch. Das macht es leichter. Seine Augen hat er überall, er winkt hierhin und dorthin, erspäht drei Jungs, begrüßt sie mit Handschlag, lädt sie in eine Eisdiele ein. Lässig schlendern Yanis, Damir und Muhammed an den Tisch. Sie tragen schwarze Jacken, Basecaps, die Haare sind kurz und akkurat geschnitten. Sie wollen erzählen. Ihre Namen sind geändert - Vertrauen gegen Vertrauen.
"Ein Blick reicht", sagt der 16 Jahre alte Yanis. "Guckt mich einer falsch an, frage ich, ey, was willst du? Wenn er dann wegguckt, ist er ein Loser. Wenn nicht, haue ich ihm eine rein." Ein Loser, ein Opfer will keiner sein, es scheint fast unausweichlich, dass es mit Gewalt endet.
Der gebürtige Berliner Yanis stammt aus einer bosnischen Familie. Damir ist 17, Vater Afrikaner, Mutter Deutsche, Muhammed, 18, sagt, er sei arabischer Kurde. Sie sind hier im Kiez geboren und haben einen deutschen Pass, wie fast alle, die der um seine Wiederwahl bangende Roland Koch als "Ausländer" bezeichnet. Am ehesten fühlen sie sich als Schöneberger - und als Mitglieder der 30 Kings, der stärksten Bande hier. Yanis deutet auf sein Handy: "Wenn einer im Wedding oder in Neukölln Stress hat, ruft der seine Freunde an. Die kommen. Das ist wie Familie."
Jeder ist hier mit jedem verbunden, es ist ein Netzwerk. Dutzende solcher Verbindungen überziehen Großstädte wie Berlin. "Auf der Straße musst du auf stark machen", sagt Damir. Früher hat er aus Langeweile zugeschlagen, er saß auch schon im Knast, inzwischen prügelt er sich nicht mehr. "Mädchen sind die einzige Rettung. Wenn du sie liebst, hörst du auf sie." Damir rappt. Hardcore-Rapper, das wäre sein Traumberuf, mit brutalen Texten - "so, ich schlepp dich in den Wald, und so was".
Die drei erzählen Geschichten, die nicht zu ihren glatten, kindlichen Gesichtern passen. Von 13-Jährigen, die andere abstechen, von Rachefeldzügen in andere Bezirke. Es sind die Nebensätze, aus denen man heraushört, wie man in dieser Welt ticken muss. Als der Fotograf vorschlägt, er würde gern am nächsten Tag noch mal durch den Kiez ziehen und Fotos machen, sagt Ykhlef: "Nee, ohne mich besser nicht, sie könnten dich angreifen." Als einige Jungs in einem beleuchteten Hauseingang für die Kamera posieren, sagt ein kleiner: "Aber nur von hinten, ich bin noch auf Bewährung."
Es macht Ykhlef wütend, wie die Politik seine Schützlinge instrumentalisiert, beim Laufen fuchtelt er mit den Armen. "Die Politiker", sagt er, "haben die Macht und die Mittel, die Zustände zu ändern. Aber die Jungs, die hier ständig über Opfer reden, haben keine Ausbildung, kriegen keine Jobs, müssen in den Knast. Wer sind denn hier die Opfer?"
In einem arabischen Café trifft er am Abend seine Kollegin. Hella Pergande arbeitet wie Ykhlef für das Projekt Outreach, das in ganz Berlin Jugendarbeit organisiert. "Diese Jungs sind Kinder", sagt sie, "aber sie machen Erfahrungen, die viele Erwachsene nie gemacht haben. Sie wissen, wie es aussieht, wenn jemand abgestochen wird. Oder dass man sich zu Boden werfen muss, wenn das SEK kommt."
Ykhlef kümmert sich um die Älteren, seine Kollegin um die Kinder. Beide haben vor drei Jahren hier im Kiez angefangen, als soziale Feuerwehr. Denn im Kiez brannte es. Ein Café für HIV-positive Menschen, in dem sich viele Schwule trafen, wurde von Jugendlichen massiv bedroht, die Scheibe mehrmals beschmiert, auch Händler beschwerten sich. Die Polizei war ratlos. "Mein Ziel für die ersten Monate war: Ihr müsst mir in die Augen gucken, Guten Tag sagen und die Hand geben", erinnert sich Pergande. Die Kinder starrten einfach in die Luft, wenn die komische Frau sie ansprach. Ykhlef, einen vermeintlichen Konkurrenten, beschimpften sie anfangs schon mal. "Bist du Kripo oder was?" Er beobachtete oft nur. Wer steht bei wem? Wer ist Anführer? Wer Opfer? Wen kennt die Polizei als Straftäter? Die Mathematik der Straße folgt klaren Regeln.
Eine lautet: Für die, denen die Gesellschaft jede Anerkennung verweigert, ist Respekt die entscheidende Währung. Wenn Ykhlef in eine dieser "Was guckst du?"-Situationen geriet, antwortete er einfach: "Ich dachte, du seist ein Bekannter." Dann fühlte sich der Jugendliche nicht mehr provoziert.
Respekt also. Die drei Jungs, die in einem Jugendtreff zur Tür laufen, weil Ykhlef vorbeigeht, begrüßen ihn mit Handschlag, einer nach dem anderen. Dieses Ritual wiederholt sich auf dem Rundgang durch den Kiez mehrfach, stets wird es mit feierlichem Ernst ausgeführt.
Die Streetworker bringen den Kindern bei, wie man sich Respekt erarbeitet, ohne andere zu schlagen, ohne Handys und angesagte Klamotten abzuziehen. Ein gelungenes Beispiel dafür lässt sich im Sommer am Kletterfelsen auf dem Spielplatz beobachten. Die Älteren helfen den Jüngeren in die Gurte, sie klinken Karabinerhaken in die richtigen Ösen und sichern die Kinder beim Klettern über ein Seil. "Sie übernehmen Verantwortung und merken, dass sie dafür Bestätigung bekommen", sagt Pergande. So genannte Peerhelper helfen auch beim Breakdance oder beim Schwimmenlernen. 15 Mini-Streetworker sind es derzeit, denen Hella Pergande für ihre Hilfe ein Taschengeld zahlt. Die Jungs, die sonst auf hart machen, reißen sich um diese Jobs.
Die Streetworker ermöglichen ihnen, in ein anderes Leben zu schauen. Es sind einfache Sachen. In den Grunewald fahren, ins Schwimmbad gehen, U-Bahn fahren, ohne zu pöbeln. Mit den Älteren gehen sie ins Kino oder zum Go-Kart-Fahren. Ykhlef macht seine Runde nachmittags, wenn die Jungs auf der Straße sind. Er redet mit der deutschen Kneipenwirtin über arabische Kultur, geht auch in die Familien, wenn es Probleme gibt. "Ich versuche den Jugendlichen ein Freund zu sein. Jemand, den sie anerkennen, der ihnen aber andere Werte vermittelt." Das mag pathetisch klingen, aber Ykhlefs Schützlinge brauchen jemanden, der Mut und Selbstsicherheit ausstrahlt.
Es ist nicht leicht, Hoffnung zu wecken. Der überwiegende Teil der Migrantenjugendlichen besucht die Hauptschule, auf der Neumark-Grundschule sind 98 Prozent der Kinder nichtdeutscher Herkunft. Muhammed muss bald zur Bundeswehr, er träumt von einem Job beim Sondereinsatzkommando der Polizei. "Das ist das Geilste, was es gibt", findet er. Über sein Schöneberg-Nord macht er sich keine Illusionen: "Hier kommt keiner groß raus. Leute, die so alt sind wie mein Vater, stehen auf der Straße und kiffen. Dann gucken sich die Kinder eben ab, wie man mit schmutzigen Geschäften Geld macht. Ist cooler." Alle paar Minuten klingelt sein Handy. "Ja, Wallah, ich komm gleich!" Das Netzwerk meldet sich.
Drei Jahre sind die Streetworker inzwischen unterwegs, der Kiez hat sich gefangen. Beschwerden über randalierende Jungs gibt es kaum noch. Die Anleitung dafür steht in dem Notizbuch, das Hella Pergande dabei hat. Darin stehen Telefonnummern von Experten, die einander kennen und zusammenarbeiten: Polizei, Schulen, Jugend- und Bezirksamt, Nachbarschaftsläden. Ykhlef und Pergande sind kleine Maschen eines Netzes.
Wen von den Experten man auch fragt, alle antworten dasselbe: Um Probleme mit jungen Migranten zu lösen, braucht es keine härteren Strafen, sondern Geduld, Zeit und ein entschlossenes Miteinander. "Wenn man kontinuierlich in einem Netzwerk arbeitet, kann man eine Menge bewegen", sagt der Präventionsbeauftragte der Polizei. "Es ist entscheidend, sich nicht nur um die Auffälligen zu kümmern, sondern auch um die Jüngeren", sagt die Jugendstadträtin, "damit die sich später anders verhalten als ihre Brüder." Und Streetworkerin Pergande meint: "Nach drei Jahren hat man langsam Grund drin. Die Kinder, die bei unserem Einstieg die jüngsten waren, sind alle nicht kriminell geworden."
Und was sagen die, um die sie sich alles dreht? "Noureddine ist perfekt", meint Muhammed. "Wenn es hier hundert von ihm gäbe, hätten wir vielleicht kein Problem." Eine Analyse, die leider an der Realität scheitert: Die beiden Streetworker bekommen immer nur Halbjahresverträge, alle sechs Monate fragen sie sich, ob diesmal wirklich Schluss ist.
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