Mit dem Elektromotor in den Alpen: Die Formel 1 der Bergradler
Stau und zähfließender Verkehr zwischen Watzmannhütte und Gipfelkreuz: Elektrisch verstärkte Mountainbikes erobern die Alpen.
Dass eine Verkehrswende nötig ist, hat sich inzwischen auch im Scheuer-Ministerium herumgesprochen, auch wenn man dort den Eindruck zu vermeiden versucht, dass damit die Freiheit der Autofahrer beschränkt werden könnte. Dieser Eindruck wäre aber nötig: Eine Verkehrswende, die diesen Namen verdient, wird auch auf Kosten derer gehen müssen, die ihre Umwelt mit motorisierten Privatfahrzeugen behelligen.
Umso grotesker ist die diametral entgegengesetzte Entwicklung, die sich im Moment dort vollzieht, wo überhaupt noch nie Motoren zugelassen waren und von Verkehrsproblemen gar keine Rede sein konnte: im alpinen Gelände. Dort also, wo man sich bisher nur mit der Langsamkeit des Fußgängers bewegen konnte, oder – im Winter – auf Skiern. Worum es geht? Um die Mountainbiker, die immer zahlreicher und immer weiter ins Gebirge vordringen.
Die Zeiten, da sich vereinzelte Pedaltreter die Hänge hinaufquälten, sind nämlich vorbei. Inzwischen ist mehr als jedes zweite in Deutschland verkaufte MTB ein Pedelec. Das heißt, es ist mit einem Elektromotor ausgestattet, der sich beim Treten zuschaltet und so ungeahnte Möglichkeiten eröffnet.
Mit den Produktionszahlen ist auch das Leistungsvermögen der Aggregate signifikant angestiegen. Bei vielen Modellen liegt es inzwischen bei einer Spitzenleistung von 600 Watt, ohne dass es dafür irgendeines Tunings bedürfte.
Dass nach EU-Recht eigentlich nur Geräte bis 250 Watt Nennleistung als Pedelecs anerkannt sind, scheint niemanden zu stören – weder den deutschen Gesetzgeber noch die Ordnungsämter und schon gar nicht die Industrie, die munter weiter produziert und Zweirad-Boliden auf den Markt wirft, die die E-Bikes der ersten Generation als Kinderspielzeuge erscheinen lassen.
Mit Hightech die Berge rauf
Mit solchen Hightech-Geräten fliegen die Radler jetzt geradezu die Hänge hinauf, dreimal schneller als ohne Unterstützung, begrenzt einzig durch die Tatsache, dass die auf Anschlag gefahrenen Motoren nach rund einer halben Stunde automatisch ihre Leistung drosseln, um Überhitzungsschäden zu vermeiden.
Die Zahl derer, die in die Formel 1 der Bergradler überwechseln, steigt im Moment auch deshalb so explosiv an, weil die Zweiradindustrie es geschafft hat, das E-Bike vom Negativimage zu befreien, eine Mobilitätsprothese für die Großelterngeneration zu sein.
So konnten Trenddesigner wie die von „Bosch ebike systems“ eine ganz neue (Motor-)Sportart und Erlebnisdimension ausrufen: Das „Uphillen“ und den „Uphill-Flow“. Passend dazu wurden hie und da sogar schon Steilwandkurven ins Gelände gefräst, damit die Outdoorsportler auch beim Aufwärtsfahren die Fliehkräfte genießen können. Im Sattel eines „Enduro“-Modells kann man steilste Anstiege, Sprünge über Hindernisse und das Überfahren von Absätzen und Stufen bewältigen. Wer bisher in einer Stunde vierhundert Höhenmeter schaffte, schafft nun tausend Meter und mehr, ohne sich das T-Shirt durchzuschwitzen.
Auf der Kitzbühler Webseite ist von „Genussbikern mit dem Erlebnis Gipfelsieg“ die Rede, ein Veranstalter im Schweizer Val Müstair lockt mit den Worten „Schneller, weiter, höher hinaus... Muskelkraft ist gut – mit Batteriekraft geht’s jedoch besser“. Auf allen Fotos seiner Webseite sind die Radler auf schmalsten Bergwegen unterwegs.
Und das, obwohl nach § 43 des eidgenössischen Straßenverkehrsgesetzes „Wege, die sich für den Verkehr mit Motorfahrzeugen oder Fahrrädern nicht eignen oder offensichtlich nicht dafür bestimmt sind, mit solchen Fahrzeugen auch nicht befahren werden [dürfen]“.
Für die Naturräume der Alpen hat dies handfeste Konsequenzen. Sie verlieren den Charakter als Schutzraum vor der technischen Zivilisation, die ihre Karriere begründet hat. Bis vor Kurzem fand die rollende Fortbewegung ihre natürliche Grenze noch dort, wo das Gelände so unwegsam wurde, dass Mountainbiker hauptsächlich im Schiebe- und Tragemodus unterwegs waren.
Den Wanderfreunden hinterher
Jenseits dieser Grenze konnte man eben nur noch tun, wofür uns die Natur bestens ausgestattet hat – zu Fuß gehen. Mit den auch noch mit einer Schiebehilfe ausgestatteten Spezialfahrzeugen folgt die Motorenwelt dem Wanderer nun auch dorthin, wo er bislang vor ihr sicher war – bis hinauf zu den Gipfelkreuzen (wo die Outdoor-Magazine und die Werbevideos die hochalpinen Genussradler besonders gerne zeigen).
In der Fremdenverkehrsbranche wird die ausgebrochene Materialschlacht natürlich begrüßt: erreicht man damit doch eine ganz neue Zielgruppe – weniger trainierte Zeitgenossen, die eben noch anderswo in die Pedale traten, weil sie die alpine Topografie abgeschreckt hatte. Dass man dieser Gästeschicht den Weg frei machen möchte, ist nicht verwunderlich.
Irgendwie müssen die Einnahmerückgänge des Wintersportgeschäfts ja kompensiert werden. Nicht nur lässt sich die Zahl der Skifahrer schon seit Jahren nicht mehr steigern, aufgrund des Klimawandels fallen auch viel höhere Kosten an, um die Hänge in weiße Wedelpisten zu verwandeln. Als Rettungsanker erscheinen nun die Bergradler, die sich zum Genussradeln und Downhillen auch mal gerne mit der Seilbahn hinaufschaffen lassen.
Deshalb werden die Probleme auch kleingeredet, vor allem die Konflikte mit den Wanderern, die in vielen Alpengegenden gerade außer Kontrolle zu geraten beginnen. Fast überall belässt man es bei Appellen zur gegenseitigen Rücksichtnahme. Man müsse sich einfach nur ein bisschen in Toleranz üben, sich in die anderen Wegenutzer reinzuversetzen lernen – und schon herrsche wieder Frieden!
Asymmetrische Begegnungen
Dass sich die Probleme auf diese Weise lösen lassen, ist reine Selbstbeschwörung. Die Asymmetrie zwischen den Nutzergruppen ist ja allzu offensichtlich. Während der Wanderer weder Helm noch Schutzkleidung trägt, ist der sicherheitstechnisch aufgerüstete und durch Helm und Brille anonymisierte Mountainbiker mit weit größerer physikalischer Energie unterwegs und kann seiner Umwelt auf diese Weise regelrecht gefährlich werden.
Dazu kommt, dass hier zwei grundverschiedene Erlebniswelten aufeinanderprallen, die sich gegenseitig ausschließen. Fern davon ein sportliches Grenzerlebnis zu suchen, wollen die meisten Wanderer heute mit offenen Sinnen in die Landschaft eintauchen, in eine Beziehung mit der Natur treten, in der diese mehr ist als ein zu überwindender Widerstand. Die älteste und natürlichste aller Fortbewegungsarten praktizierend, braucht man auch keine gesteigerte Aufmerksamkeit für seinen Raumgewinn und genießt den selbstläufigen Prozess des Schrittwechselns, bei dem, wie man zu sagen pflegt, der Weg das Ziel ist.
Wird jemand, der sich dem Rhythmus seiner Gehwerkzeuge überantwortet hat, in kürzerer Zeit zwei oder drei Mal von schnell von hinten kommenden Radlern aufgeschreckt, so findet er kaum noch zu seiner vorherigen mentalen Windstille zurück. Immer wieder ertappt er sich nun dabei, sich beim kleinsten nicht eindeutig lokalisierbaren Geräusch nervös umzudrehen. Statt mit allen Sinnen da und offen zu sein, verbraucht er einen Teil seiner sensorischen Energie dafür, sich auf die nächste böse Überraschung vorzubereiten, die sich von hinten nähert. Die innere Ruhe ist dann dahin, das spezifische In-der-Welt-Sein des Wanderers ausgehebelt.
Das Erlebniskostüm des Mountainbikers ist da wesentlich robuster – nicht weil dieser einem anderen Persönlichkeitstypus angehören würde, sondern weil er sich im Sattel sitzend einer speziellen Mobilitätslogik unterwerfen muss. Spätestens wenn er die planierten Forstwege verlässt, befindet er sich in einem Kampf mit den Widerständen einer Bergnatur, die für die rollende Fortbewegung denkbar ungeeignet ist – und ein hohes Sturzrisiko birgt.
So muss er sich in jedem Moment konzentrieren, muss aufpassen, dass er den bergseitigen Felsen und dem talseitigen Abgrund nicht zu nahe kommt, und muss auch das Auftauchen anderer Hindernisse einkalkulieren – entgegenkommende Kollegen oder Tiere und Fußgänger, die sich vor ihm auf dem Weg befinden. Solche Widerstände zu meistern ist integraler Bestandteil seiner Outdoor-Aktivität.
Angesichts dieser so unterschiedlichen Erlebnis- und Wahrnehmungshorizonte kann man sich nur schwer der Einsicht verschließen, dass die Folgen des Aufeinandertreffens für den Fußgänger gravierender sind als für den Mountainbiker.
Im Adrenalinrausch
Während Ersterer durch die Begegnung aus seinem Wahrnehmungsmodus herauskatapultiert wird, erfährt Letzterer eine Störung, die sogleich wieder vergessen ist, weil mit der nächsten Kurve oder Bodenunebenheit sofort wieder eine neue Challenge auf ihn wartet. Auf kleinformatigen Bergwegen bleibt man als Radler im Auseinandersetzungs- und Anspannungsmodus, den der Wanderer gerade meidet – für die Entspannung bleiben die Stunden danach, im Wellnessbereich eines Viersternehotels etwa oder abends auf der Couch. Adrenalin ist sein Lebens- und Überlebenselixir, im Gegensatz zum alpinen Fußgänger, der nichts weniger sucht und braucht als dieses oder ein anderes Stresshormon.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Niemand wird daraus schließen, dass die eine Nutzungsform legitim ist und die andere nicht. Beides sind Weisen, sich mit sich selbst und der Natur auseinanderzusetzen, wenn auch sehr verschiedene. Sicher ist allerdings eines: Übersteigt die Zahl der Mountainbiker eine nicht näher zu bestimmende Grenze, so führt das zu einseitigen Verdrängungseffekten, die in der Schweiz, in Südtirol und im restlichen Norditalien bereits offensichtlich geworden sind. Egal, ob sich die Radler rücksichtsvoll verhalten oder nicht.
Die Entwicklung wäre weniger bedenklich, wenn der Freizeitgeher in andere Gebiete ausweichen könnte. Aufgrund ihrer rauen Topografie gehören die Alpen aber längst zu den letzten Refugien der stillen Erholung, zu den wenigen noch verbliebenen Biotopen der gerätefreien Mobilität. Dieses Kapital wird nun durch die Omnipräsenz technisch hochgerüsteter Rollsportler infrage gestellt.
Was tun? Das Radfahren auf klassischen Gebirgswegen ganz verbieten, sagen die einen, Wanderwege und Trails klar voneinander trennen, die anderen. Letzteres wird auch deshalb gefordert, weil die Radfahrer das Wegenetz zerstören, indem sie Spurrillen in die Oberfläche fräsen, die das Begehen erschweren und die Erosion befördern.
Für Axel Doering vom BUND Naturschutz Bayern hat der Konflikt mit dem E-Bike-Boom noch mal an Schärfe gewonnen. Die Unterschiede zwischen befahrbaren und unbefahrbaren Räumen würden in einer niemals dagewesenen Form nivelliert – man könne nun überall mit Fahrzeugen unterwegs sein, Tempo machen und der Gebirgslandschaft die ihr eigene Aura der Entschleunigung nehmen. Doering, der zugleich Präsident der Alpenschutzorganisation CIPRA Deutschland ist, spricht deshalb von einer „neuen Dimension der Motorisierung der alpinen Landschaft“. Was bisher im Winter durch die Seilbahnen ermöglicht worden sei, werde durch das E-Bike flächendeckend: „Nach den räumlich noch begrenzten Eingriffen für Skigebiete und Funparks folgt jetzt die kapillare Erschließung der Alpen, von der kein Fleck mehr verschont bleibt. “
Gerechtfertigt wird das neue Moto-Cross gerne mit seiner vermeintlichen Umweltfreundlichkeit – immerhin knattern keine Verbrennungsmotoren und wehen keine Abgasfahnen über die Hänge. Tatsächlich ist die Nutzung eines E-Bikes aber nur umweltfreundlich, wenn dies eine Autofahrt ersetzt. Und wenn man den Stromverbrauch und die katastrophale Umweltbilanz der Batterietechnik vergisst.
Der Einzelne kann jetzt auch dort, wo Muskelkraft die einzige Antriebsart war, Energie verschwenden und seinen Beitrag dazu leisten, dass bald noch der letzte alpine Wildfluss zur Wasserkraftnutzung verrohrt und weitere zweihundert Meter hohe Windkraftanlagen in die Landschaft gestellt werden. Schließlich muss man abends nicht nur die Smartphones, GPS-Geräte und Helmkameras aufladen, sondern auch die leergefahrenen Akkus. Und das alles in Zeiten des Klimawandels und im Namen des sanften Tourismus!
Besonders erstaunlich ist die abwartende Haltung des als Naturschutzverband anerkannten Deutschen Alpenvereins. Schließlich droht seiner Klientel der Verlust ihres angestammtes Terrains. Was ihn zögern lässt, ist die Einschätzung, dass es sich beim Mountainbiken um einen Natursport handele, der über allen Zweifel erhaben sei, weil er eine Fortbewegung mit eigener Körperkraft darstelle.
Seltsame Unterscheidung
Ein Argument, dem zu folgen es eine gehörige Portion Realitätsverlust braucht. Wer einmal auf einem E-Bike gesessen und in den Turbo-Modus gewechselt hat, weiß nämlich sehr genau, dass das mit Eigenleistung nicht mehr viel zu tun hat. Umso seltsamer, dass der DAV auf die Unterscheidung von Pedelecs und E-Bikes größten Wert legt und Letztere demonstrativ ablehnt. Fahrräder, die ganz ohne Treten fahren, spielen im Gebirge nämlich nicht die geringste Rolle. Man will sich ja bewegen, es soll nur nicht anstrengender sein als im Flachland. Im falschen Stolz auf den kleinen Rest von Eigenleistung wird ausgeblendet, dass man als E-Biker Motorsport betreibt und damit in eine Fahrzeugkategorie wechselt, die im alpinen Gelände nichts zu suchen hat. Immerhin hat der DAV auf seiner jüngsten Hauptversammlung die Grundlage für einen Kurswechsel gelegt.
Er wirft die klassischen Mountainbikes und Pedelecs nicht mehr in einen Topf und hat eine Arbeitsgruppe eingerichtet. Zudem wurden die Hüttenwarte angewiesen, keine Ladestationen aufzustellen – eine Vorgabe, die inzwischen aber wieder verwässert wurde: die Rede ist jetzt nur noch von „individuellen Entscheidungen der Sektionen“, als ob die langfristige Durchsetzung der Stromtankstellen damit nicht vorprogrammiert wäre.
Dass der größte denkbare Eingriff in die vielbeschworene Freiheit der Berge droht, scheint inzwischen auch die oberbayerische CSU bemerkt zu haben. Laut Beschluss des letzten Bezirksparteitags will man vor allem die „Erholung durch Entschleunigung“ fördern und deshalb „Sperrzonen“ einrichten, in denen jegliches Radfahren verboten ist.
Versäumen es die politischen Entscheidungsträger, gesetzliche Regelungen folgen zu lassen, so werden sich in wenigen Jahren alle nicht auf felsigem Untergrund verlaufenden Wanderwege in Fahrrinnen verwandelt haben, in denen bei Regen das Wasser zu Tal fließt – Wege, die der Alpenverein in den letzten 150 Jahren sorgsam gepflegt hatte, damit Menschen nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren Natur auf die ursprünglichste Weise näherkommen können. Zu Fuß nämlich.
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