Missbrauch im Schwimmsport: Und täglich werden es mehr

Eine Doku in der ARD legt Missbrauch im Schwimmsport offen. Eine unabhängige Aufklärung solcher Fälle gibt es nach wie vor nicht. Das muss sich ändern.

Blick in ein Schwimmbecken.

Um den Sport sicherer zu machen, braucht es eine unabhängige und genaue Aufarbeitung Foto: owi/plainpicture

Wer Kinder hat, die in Sportvereinen nach Großem streben, kennt das vermutlich: Trainer, in der Überzahl sind es Männer, stehen außerhalb jeglicher Kritik. Sie können noch so rüde schimpfen, brüllen, abkanzeln und mit Sanktionen drohen, anders als Leh­re­r:in­nen werden sie dafür von den Drangsalierten vehement verteidigt. „Das muss er so machen“, wird einem erklärt. Und nicht wenige Eltern am Spielfeld- und Beckenrand sehen das ähnlich. „Nur mit Freundlichkeit erreicht man nichts. Das muss man mal aushalten können. Das ist ja nicht so gemeint.“

Spaß muss schon auch sein, aber den ein oder anderen Grenzübertritt betrachtet manch Er­wach­se­ne:r als gute Schule fürs Leben. Und wer Profi oder zumindest richtig gut werden will, das weiß schon jedes Kind, darf eh nicht zimperlich sein. Trai­ne­r:in­nen sind die Tür­öff­ne­r:in­nen für solche Träume. Alles in allem also kein Wunder, dass sie von vielen Eltern und Kindern einen Vertrauensblankoscheck ausgestellt bekommen. Daraus erwächst eine Macht, die in den schlimmsten Fällen monströse Ausmaße annehmen kann. Der Sockel, auf den Trai­ne­r:in­nen gehoben werden, ist mit reichlich Zement ausgekleidet.

Wer vor gut einer Woche die Dokumentation in der ARD über sexuellen Missbrauch im deutschen Schwimmsport gesehen hat, mag sich gewundert haben, weshalb sich der Weltklasse-Wasserspringer Jan Hempel noch im Alter von 25 Jahren seinem vergewaltigenden Trainer Werner Lange nicht verweigern konnte. Vierzehn Jahre hatten die Übergriffe da schon angedauert. Die Frage wurde in der Doku nicht gestellt. Vielleicht, weil sie den intimsten Schambereich berührt hätte: das Gefühl der Mitverantwortung für dieses eigenartige Zwangsbündnis, das viele Betroffene haben, weshalb so lange wie möglich bloß niemand etwas mitbekommen soll.

Im Fall Hempel stand zudem noch die berufliche Existenz auf dem Spiel. Als Medaillengewinner war er im Sportsystem in der schwächeren Position als der Medaillenmacher. So vergewaltigte der Medaillenmacher den möglichen Gewinner noch in der Pause des olympischen Wettkampfes bei den Spielen 1992 in Barcelona.

Die Erzählung von Jan Hempel könnte kaum extremer und grausamer sein. In der öffentlichen Nachbetrachtung der Doku, deren Ur­he­be­r:in­nen es gerade auch ein Anliegen ist, mit der Erzählung weniger extremer Übergriffe die Normalität von sexueller Gewalt im deutschen Sport zu illustrieren, bleibt sie zentral.

Die Hinwendung zum Extremen wirkt wie ein gesellschaftlicher Selbstberuhigungsreflex, kann man doch sagen: Das ist wirklich nicht mehr normal. Die anderen Geschichten werden in diesem Sog zu bloßen Nummern. „Immer noch kommen täglich Fälle dazu“, berichtete Christian Hansmann, der Leistungssportdirektor des Deutschen Schwimm-Verbands (DSV) bereits vier Tage nach der Veröffentlichung der Doku.

Erschreckend alltäglich

Die Zahlen, die gerade die Alltäglichkeit sexualisierter Gewalt im deutschen Sport belegen, wird der DSV bald offenlegen müssen. Als der einstige englische Fußballprofi Andy Woodward seine monströse Missbrauchsgeschichte 2016 erzählte, gingen über 500 Anzeigen von ebenfalls Betroffenen sexualisierter Gewalt im Fußball bei den Polizeidienststellen im Lande ein.

Die Geschichten hinter den Zahlen sind mannigfaltig. In der ARD-Doku berichtet der ehemalige Leistungsschwimmer Till Michalak, wie ein Betreuer unter der Vortäuschung einer falschen Identität seine sexuellen Fantasien über Kurznachrichten an ihm auslebte. Michalak glaubte anfangs, im Austausch mit einer von ihm verehrten Schwimmerin zu sein. Dass dieser Mann noch heute im Schwimmsport tätig ist, weil die Gerichte sein Verhalten nicht für justiziabel hielten, zeigt die Notwendigkeit, sich mit jeder Form von Grenzverschiebung zu befassen. Auch Fälle von physischer und psychischer Gewalt sollten mit in den Blick genommen werden.

Um den Sport sicherer zu machen, braucht es eine unabhängige und genaue Aufarbeitung all dieser Geschichten, bei der vermeintlich unverzichtbare Leistungsträger dieses Systems nicht geschont werden. Der DSV legte diese Woche einen Offenbarungseid ab, der zeigte, dass die vom Verband zunächst bevorzugte interne Klärung all der Vorwürfe zum Scheitern verurteilt ist: In einer Pressemitteilung zur ARD-Doku wies man darauf hin, schon die „umfangreiche Aufklärung“ im Fall des wegen sexuellen Missbrauchs verurteilten ehemaligen Schwimm-Bundestrainers Stefan Lurz habe den Verband an rechtliche und auch finanzielle Grenzen gebracht.

Es gebe im DSV und den Landesverbänden ausschließlich ehrenamtlich tätige Ansprechpersonen für den Bereich Prävention sexualisierter Gewalt. Deshalb unterstütze man die Forderung nach einer unabhängigen Anlaufstelle und deren Finanzierung durch die öffentliche Hand.

Ohnmachtseingeständnisse dieser Art sind neu. Bislang hat der organisierte Sport sich eher bemüht, Forderungen der Interessenvertretung Athleten Deutschland e. V. nach einer solchen Anlaufstelle auszubremsen, alles unter eigener Kontrolle zu behalten.

Mittlerweile ist jedoch die Schaffung eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport im Koalitionsvertrag verankert. Um die finanzielle Mitverantwortung drückt sich der organisierte Sport noch. Für die Bundes- und Länderregierungen wäre es allerdings ein Leichtes, Sportfördergelder mit einer Pflichtabgabe für diesen Bereich zu verknüpfen. Sport und sexualisierte Gewalt müssen zusammengedacht werden. Die in einer Machbarkeitsstudie des Bundesinnenministeriums veranschlagten 340.000 Euro, mit der das Zentrum Safe Sport jährlich ausgestattet werden soll, sind ohnehin ein schlechter Witz. Der Deutsche Schwimm-Verband wird das nun bestätigen können.

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