Mini-Atomkraftwerke in der Kritik: „Fantastereien“ der Atomlobby
Die EU-Kommission sieht in Atomkraft die Energieform der Zukunft. Eine neue Studie im Auftrag der Bundesregierung warnt hingegen vor neuen Reaktoren.
Speziell warb von der Leyen für den Bau von Kleinen Modularen Reaktoren („Small Modular Reactors“, SMR) als eine vielversprechende technische Neuerung. „Es gibt schon mehr als 80 Projekte weltweit, und einige unserer Mitgliedstaaten haben ein starkes Interesse an diesen Reaktoren bekundet“, behauptete sie.
SMR sind kleine AKW mit einer elektrischen Leistungen von etwa 15 bis höchstens 300 Megawatt – die gängigen Leichtwasserreaktoren leisten hingegen 1.300 oder sogar 1.600 Megawatt. Ihre Befürworter werben damit, dass SMR gewissermaßen als Reaktoren von der Stange in einer Fabrik vorgefertigt, anschließend an den Montageort gebracht und dort zusammengesetzt werden könnten.
Sie seien weniger störungsanfällig, erzeugten weniger Atommüll und seien viel billiger als herkömmliche Atomkraftwerke, bei denen die Baukosten – aktuell etwa in Frankreich oder Großbritannien zu beobachten – immer mehr in die Höhe schießen.
Markteinführung aktuell nicht absehbar
Zeitgleich zu von der Leyens Werberede stellte das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) in Berlin eine neue wissenschaftliche Studie vor, die zu einer äußerst kritischen Bewertung von SMR kommt. Eine Markteinführung der neuen Reaktortypen sei aktuell gar nicht absehbar, sagte der neue BASE-Präsident Christian Kühn: „Trotz teils intensiver Werbung von Herstellern sehen wir derzeit keine Entwicklung, die den Bau von alternativen Reaktortypen in den kommenden Jahren in großem Maßstab wahrscheinlich macht.“
Im Gegenteil sei zu erwarten, „dass aus sicherheitstechnischer Sicht die möglichen Vorteile dieser Reaktorkonzepte von Nachteilen und den nach wie vor ungeklärten Fragen überwogen werden“, so Kühn. Die Konzepte lösten „weder die Notwendigkeit, ein Endlager für die radioaktiven Abfälle zu finden noch die drängenden Fragen des Klimaschutzes.“
Die alternativen Reaktorkonzepte, neben SMR etwa auch Modelle von blei- und gasgekühlten Reaktoren oder Salzschmelzereaktoren, werden Kühn zufolge häufig mit der Hoffnung verknüpft, dass Sicherheitsrisiken und Entsorgungsprobleme vermindert oder gar gelöst werden könnten.
Um das zu überprüfen, hatte das BASE bereits 2021 das Öko-Institut, die Technische Universität Berlin und das Physikerbüro Bremen mit der Studie beauftragt. Das Ergebnis ist ein rund 600 Seiten umfassendes Konvolut mit dem Titel „Analyse und Bewertung des Entwicklungsstands, der Sicherheit und des regulatorischen Rahmens für sogenannte neuartige Reaktorkonzepte“.
Vorteile bei keiner Technologie
Die Autoren verglichen Reaktorkonzepte mit Blick auf ihre Sicherheit, Wirtschaftlichkeit oder den Brennstoffverbrauch. Einzelne Technologielinien könnten – bei konsequenter Auslegung – in einzelnen der Kriterien zwar potenzielle Vorteile gegenüber heutigen Leichtwasserreaktoren erzielen, sagte Christoph Pistner vom Öko-Institut. „Aber für keine der Technologielinien ist in allen Bereichen ein Vorteil zu erwarten, in einzelnen Bereichen sind auch Nachteile gegenüber heutigen Leichtwasserreaktoren möglich.“ „Wer heute Euphorien in Verbindung mit alternativen Reaktorkonzepten weckt, blendet offene Fragen und Sicherheitsrisiken aus“, bilanzierte BASE-Chef Kühn.
Im Hinblick auf die Sicherheit der nuklearen Entsorgung bleibe festzuhalten, „dass kein alternativer Reaktortyp den Bau eines Endlagers überflüssig macht“.
In Brüssel protestierte derweil ein internationales Bündnis aus Umwelt-, Klimaschutz- und Friedensaktivist:innen in der Nähe des Atomiums. In einer von mehr als 500 Umwelt-, Klimaschutz-, Friedens-, und Menschenrechts-Organisationen aus rund 50 Ländern unterzeichneten Erklärung werden die Regierungen weltweit aufgefordert, im Kampf gegen die Klimakrise wertvolle Zeit und Geld nicht mit den „Fantastereien“ der internationalen Atomlobby zu verschwenden.
Stattdessen müsse mit dem Übergang zu einem System auf Basis von 100 Prozent erneuerbaren Energien in eine „sichere, bezahlbare und klimafreundliche Energie für alle“ investiert werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag