Mindestlohn feiert 10-jähriges Jubiläum: Deutschland doch nicht untergegangen
Die Unkenrufe der Mindestlohn-Gegner haben sich nicht bewahrheitet. Steigt der Mindestlohn demnächst auf 15 Euro pro Stunde?
Das war 2015, am 1. Januar genau vor zehn Jahren. Eine Dekade später ist diese Untergrenze erneut umstritten. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) plädiert seit geraumer Zeit dafür, den Mindestlohn deutlich auf 15 Euro pro Stunde anzuheben. Diese Position hat es auch ins Programm der SPD für die Bundestagswahl im Februar 2025 geschafft. Dahinter steht wieder die Frage: Nützt die Regelung mehr oder schadet sie?
Das Mindestlohn-Gesetz ist einfach und wirksam. Momentan schreibt es vor, dass grundsätzlich alle Beschäftigten hierzulande pro Stunde mindestens 12,41 Euro brutto erhalten müssen, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Eine Kommission aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Wissenschaftlern beschließt über regelmäßige Erhöhungen. Der Zoll kontrolliert, dass die Firmen den Lohn auch tatsächlich zahlen.
Die Einführung brachte einen Quantensprung
Als das 2015 eingeführt wurde, war es ein Quantensprung. Knapp vier Millionen Beschäftigte, die vorher teils deutlich weniger verdienten, hatten plötzlich das Recht auf 8,50 Euro pro Stunde – darauf verständigte sich die große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor allem auf Druck der Sozialdemokraten. Es handelte sich um eine Abkehr von der Politik der teilweisen Deregulierung des Arbeitsmarktes, die einen breiten Niedriglohnsektor hatte entstehen lassen.
Viele Leute, die in Restaurants, Geschäften, Reinigungsfirmen, Schlachthöfen, auf dem Bau oder bei Sicherheitsdiensten arbeiteten, verdienten so wenig, dass sie davon kaum leben konnten. „Damals arbeiteten mehr als 20 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor“, sagt Thorsten Schulten von der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung. Heute seien es dagegen „vielleicht noch 15 Prozent“.
Der gesetzliche Mindestlohn reduzierte nicht nur die Zahl der arbeitenden Armen, sondern verringerte auch die Ungleichheit zwischen Leuten mit geringen und guten Einkommen. So sorgte er für eine höhere Zufriedenheit unter den Beschäftigten, die vom ihm profitierten, und wirkte einem verbreiteten Ungerechtigkeitsgefühl entgegen.
Und die Auswirkungen auf die Zahl der Stellen war weit geringer als befürchtet. Wirtschaftsverbände und Wissenschaftler wie ifo-Chef Sinn hatten argumentiert, die höheren Arbeitskosten würden Jobs vernichten, weil die Firmen sie sich nicht mehr leisten könnten. Sie bezifferten die möglichen Verluste auf bis zu 900.000 Stellen.
Besser bezahlte Verträge nahmen zu
Tatsächlich sank zunächst etwa die Zahl der Minijobs um 150.000, andererseits nahmen im Gastgewerbe, dem Handel und anderen Branchen die besser bezahlten Verträge zu. Firmen kompensierten die Arbeitskosten beispielsweise dadurch, dass sie ihre Abläufe verbesserten, also ihre Produktivität steigerten, oder die Preise der Produkte und Dienstleistungen anhoben.
Andererseits fiel die Einführung des Mindestlohns in eine Zeit, in der die hiesige Wirtschaft insgesamt gut lief. Die Unternehmen brauchten mehr Leute, nicht weniger. Noch bis vor Kurzem stieg die Zahl der Beschäftigten Jahr für Jahr auf neue Rekorde. Mittlerweile macht sich außerdem der demografisch bedingte Arbeitskräftemangel bemerkbar. Um knappes Personal zu halten und zu gewinnen, bieten die Firmen auch von sich aus höhere Gehälter. Ein steigender Mindestlohn würde zu diesem Trend passen.
Parallel dazu ändert sich jedoch die wirtschaftspolitische Situation. Statt moderaten Wachstums herrscht nun Stagnation. Passt in diese Welt die Forderung der Sozialdemokraten, die Lohnuntergrenze in einem großen Schritt auf 15 Euro anzuheben? Die Mindestlohn-Kommission selbst hat für den Jahresbeginn 2025 nur ein Plus von 12,41 Euro auf 12,82 Euro festgesetzt.
Die Ursache für diesen Dissens bildet ein politischer Konflikt. Seit 2015 beschloss die Kommission die Entwicklung der Lohnuntergrenze im Konsens ihrer jeweils drei Gewerkschafts- und Arbeitgebermitglieder. In dieses Verfahren grätschte 2022 aber die SPD-geführte Bundesregierung hinein und setzte eine größere Anhebung auf 12 Euro durch.
Fragwürdige Mindestlohn-Kommission
Darauf reagierte die Kommission mit zwei kleinen Schritten für 2024 und 2025, indem sich die Vorsitzende auf die Seite der Arbeitgeber stellte und die Gewerkschaften überstimmte. Seitdem fragt man sich: Wie tragfähig ist diese Kommission?
Zudem beruht der politische Konflikt auf unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Maßstäben und Einschätzungen. Die Kommissionsmehrheit verweist auf die im Gesetz verankerte Orientierung an der Entwicklung der Tariflöhne. Das schließt Sprünge auf 15 Euro, was 15 Prozent entspräche, aus. Das IAB-Institut der Bundesagentur für Arbeit erklärt: Schon bei einer Anhebung des Mindestlohns auf 14 Euro würde ein Fünftel der Betriebe Beschäftigung reduzieren.
SPD und Gewerkschaften betonen dagegen eine Maßgabe der EU: Die Staaten sollen dafür sorgen, dass der nationale Mindestlohn bei 60 Prozent des mittleren Lohnniveaus liege. Das wären hierzulande über 15 Euro, hat die Hans-Böckler-Stiftung berechnet.
Wie könnte eine Lösung aussehen? Die 15-Euro-Ansage von Olaf Scholz ist eine Forderung im Wahlkampf – nicht besonders realistisch. Ein Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) würde wohl nicht in diese Richtung intervenieren. Andererseits scheinen sowohl die Unternehmerverbände als auch die Gewerkschaften ein Interesse daran zu haben, den regierungsunabhängigen Einigungsmechanismus am Leben zu halten.
„Die Kommission will sich stabilisieren, damit die Gewerkschaften nicht aussteigen“, sagt Böckler-Wissenschaftler Schulten. „Deswegen kann es sein, dass das 60-Prozent-Ziel der EU als ein Orientierungspunkt neben an deren akzeptiert wird.“ Die nächste Erhöhung könnte also deutlich über 13 Euro, aber deutlich unter 15 Euro pro Stunde liegen.
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