Millionen unter Mindestlohn beschäftigt: Das nicht eingelöste Versprechen
Bis zu 2,5 Millionen Beschäftigte erhalten nicht den Mindestlohn, obwohl sie berechtigt sind. Forscher fordern Kontrollen durch den Zoll.
Die Große Koalition aus Union und SPD führte den Mindestlohn 2015 ein. Damals betrug er 8,50 Euro brutto pro Stunde, mittlerweile sind es 8,84 Euro. Knapp zwei Millionen bundesdeutscher Erwerbstätiger erhalten diese Bezahlung schon, so das Statistische Bundesamt.
Genauso viele, wahrscheinlich sogar mehr Beschäftigte erhalten ihn jedoch nicht, obwohl er ihnen zusteht, erklärte das DIW. 2016 hätten etwa 1,8 Millionen Arbeitnehmer*innen vertragliche Stundenlöhne von weniger als 8,50 Euro bekommen, sagte DIW-Forscher Jürgen Schupp. Auf 2,5 Millionen steige diese Zahl, wenn man die Leute hinzunehme, deren tatsächliche Arbeitszeit so lang ist, dass ihr Stundenlohn unter die Mindestschwelle sinkt.
Insgesamt jedoch arbeiten bis zu 6,5 Millionen Erwerbstätige in der Bundesrepublik für Verdienste unterhalb des Mindestlohns, hat das DIW ermittelt. Ein Grund sind mehrere Ausnahmen im Gesetz: Jugendliche unter 18 Jahren ohne abgeschlossene Ausbildung, Azubis und bestimmte sogenannte Langzeitarbeitslose haben beispielsweise keinen gesetzlichen Anspruch auf den Basislohn. Hinzu kommen Millionen Selbstständige.
Betroffen sind rund 10 Prozent
Die Forscher*innen haben neue, repräsentative Daten des Sozio-oekonomischen Panels ausgewertet, an dem regelmäßig 30.000 Bürger*innen teilnehmen. Knapp 10 Prozent der Arbeitnehmer*innen bekamen demnach 2015 und 2016 weniger als 8,50 Euro. Bei den Frauen war der Anteil mit 13 Prozent doppelt so hoch wie bei den Männern.
In Ostdeutschland findet sich schlechte Bezahlung viel häufiger als im Westen, ebenso unter Leuten ohne deutschen Pass im Vergleich zu Einheimischen. Kleine Betriebe sind anfälliger als große. Auch sogenannte geringfügig Beschäftigte mit Verträgen bis 450 Euro erleiden vielfach Nachteile beim Lohn. Die Kontrolleure des Zolls wissen, dass sie besonders in Restaurants, auf Baustellen und im Einzelhandel fündig werden.
Wie vielen Menschen genau der Mindestlohn widerrechtlich vorenthalten wird, herrscht allerdings Dissens. Die Zahlen des DIW liegen wesentlich über denen des Statistischen Bundesamtes. Dort heißt es, im April 2016 hätten 800.000 Arbeitnehmer*innen das Basisgehalt nicht bekommen, obwohl sie einen Anspruch darauf hatten. Eine Ursache der Differenz liegt möglicherweise darin, dass die Destatis-Zahlen auf Angaben der Firmen beruhen. Beim SOEP des DIW antworten dagegen die Beschäftigten. Deren Einschätzung ist vielleicht realistischer.
Vielfältige Ursachen für Unterschreitung
Wenn der Mindestlohn unterschritten wird, kann das mehrere Ursachen haben. In vielen Fällen arbeiten die Beschäftigten mehr Stunden trotz niedriger Entlohnung, weil sie sich keinen Ärger mit der Firma einhandeln wollen. Die Angst um den Arbeitsplatz mag ebenfalls eine Rolle spielen, obwohl dieser Beweggrund angesichts der boomenden Konjunktur an Bedeutung verliert. Hinzu kommen Fälle, in denen die Arbeitgeber schlicht Druck auf ihr Personal ausüben, damit sie eine höhere Gewinnmarge erzielen.
Um den Missständen abzuhelfen, plädierte DIW-Forscherin Fedorets für „häufigere Kontrollen“ durch den Zoll. Außerdem solle die Politik die Ordnungsgelder für die Firmen erhöhen. Heute müssen Firmen in Branchen, in denen oft schlecht bezahlt wird, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten dokumentieren. Das betrifft beispielsweise den Bau, die Gastronomie, Speditionen, Fleischverarbeitung und Gebäudereinigung. Dieser Pflicht kommen manche Arbeitgeber aber nicht nach.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau