Migrantenkinder in Tower Hamlets: Arm, aber erfolgreich
In London zeigen Kinder mit Migrationshintergrund überdurchschnittliche schulische Leistungen – besonders im ärmsten Viertel der Stadt.
Heute ist der Stadtteil östlich der Innenstadt – wie damals – Londons ärmster Bezirk. Die Kinderarmut beträgt 49 Prozent. Und dennoch: Im Bildungsbereich gehört Tower Hamlets zu den besten Bezirken im ganzen Land. Schulen wie Oaklands und die nahe gelegene Elizabeth Selby Infant School, für Kinder im deutschen Vorschulalter zwischen 3 und 7 Jahren, gehören in England zu den besten Schulen. SchülerInnen mit Migrationshintergrund erzielen im Schnitt weit bessere Schulabschlüsse als im Rest des Landes. Besonders gut schneiden Kinder ab, deren Familien aus Bangladesch stammen. Woher kommt das?
Der Wandel an Londons Schulen beginnt 1997 mit Tony Blair. Nach fast zwei Jahrzehnten konservativer Regierungen der Tories kommt der Parteichef der Arbeiterpartei (Labour) mit frischem Schwung an die Macht. Für die Londoner Innenstadt setze er ein Erziehungsprogramm mit dem berühmt gewordenen Slogan „Education, Education, Education“ auf. 2003 folgte mit „The London Challenge“ ein Spezialprogramm für staatliche Schulen. Seither stiegen die Leistungen aller Kinder in London an, mit der Ausnahme von Roma und Sinti und „Travellers“, den Nomaden Irlands.
Bei keiner ethnischen Zuwanderungsgruppe war die Steigerung jedoch so markant wie unter SchülerInnen mit bangladeschischer Abstammung. Vor 15 Jahren erreichten weniger als 30 Prozent von ihnen erfolgreiche Schulabschlüsse. An der Schule in Oaklands etwa erlangten im vergangenen Jahr 90 Prozent der Bangladescher gute Mittelschulabschlussresultate (GCSE). Bei Kindern, deren Erstsprache nicht Englisch ist, waren es insgesamt 73 Prozent. Das sind 21 Prozentpunkte über dem Landesschnitt.
Bei den dem deutschen Abitur ähnlichen A-Levels erreichten sogar sagenhafte 93 Prozent aller SchülerInnen passable A-Levels (Noten 1 bis 3), 15 Prozentpunkte mehr als der nationale Durchschnitt.
Einschulung schon mit vier
Von solchen Zahlen können deutsche Schulen nur träumen. Zwar sind hierzulande die Leistungen einzelner ethnischer Schülergruppen an sich genommen gut, doch das eigentliche Problem in Deutschland hat mehr mit der frühen Auftrennung in weiterführende Schulen zu tun. Die entsprechende Pisa-Statistik spricht Bände: 40,3 Prozent der biodeutschen SchülerInnen im Alter von 15 Jahren gehen auf das Gymnasium, nur 8,7 Prozent auf die Hauptschule. Demgegenüber schaffen es nur 29,4 Prozent aller SchülerInnen mit Migrationshintergrund auf ein deutsches Gymnasium. 14,1 Prozent landen in einer Hauptschule.
Die deutsche Einteilung in unterschiedliche Schulen kommt für Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, zu früh – sagen englische Bildungsexperten. In England wechseln GrundschülerInnen erst zwei Jahre später, nach der sechsten Klasse, auf die anschließende Mittelschule – ohne Abstufung nach Fähigkeit. Wer Abitur macht und wer nur einen Abschluss der Mittelreife, das entscheidet sich erst dort. Die SchülerInnen sind dann etwa 16 Jahre alt. Auch die deutsche Einschulung mit 7 Jahren sehen britische Schulexperten als zu spät an, um sprachliche Defizite auszumerzen. In England beginnt die Schulpflicht in der Grundschule im Alter von 4 Jahren.
„Wir mussten alles schon machen, von Toilettentraining bis zur grundsätzlichen Sprachbildung, erzählt Tej Stride, die Rektorin der Elizabeth-Selby-Schule. Bei solchen Kindern sei es essenziell, sie so früh wie möglich zu kriegen. Spricht ihre Amtskollegin Patrice Canavan von der Oaklands-Schule vom deutschen Schulsystem, greift sie zur Katastrophenmetapher: Die Bildungschancen für Migrantenkinder sei ein „potenzieller perfekter Sturm“. Ausgliederung, Frust, Kriminalität und Schlimmeres – das seien die Folgen davon, dass Kinder in den Schulen nicht weiterkommen.
Schaffung von Schulfamilien
Eine der wichtigsten Maßnahmen des Londoner Schulprogramms 2003 war die Schaffung der Schulfamilien. „Früher lebten manche Schulen resigniert und ohne Eingriffe vor sich hin“, erzählt Professor David Woods, einer der Hauptarchitekten des Modells. Für das schlechte Abschneiden ihrer SchülerInnen hatten sich die Schulen eine Ausrede parat gelegt. Die ethnische Mischung der Schule gebe nicht mehr her. Wer wollte, konnte jedoch feststellen: Es gab auch Schulen, in denen ähnliche ethische Konstellationen hervorragende Leistungen hervorbrachten. Die resignierten – und die vorbildlichen Schulen – wurden in den Schulfamilien zusammengelegt. Die alte Ausrede galt seither nicht mehr.
Die Aufbauhilfe der resignierten Schulen beinhaltete auch, ihnen besonders gute Lehrkräfte zu vermitteln. Dafür ermittelte die Londoner Schulbehörde eigens die besten dafür geeigneten Lehrkräfte. Des Weiteren wurden Schulgebäude renoviert und neue Mittel bewilligt. Bis heute weiß man nicht, ob renovierte Schulgebäude, Lehrer oder das Management den Ausschlag für bessere Leistungen der SchülerInnen gaben. Rektorin Patrice Canavan ist sich sicher, dass das mit dem gestiegenen Selbstbewusstsein der Schulen zu tun hatte. Oder, wie sie sagt, mit der Überzeugung, „dass wir in der Lage sind, die Kinder zu ihrer bestmöglichen Leistung zu befähigen“.
Kinder, die trotzdem hängen bleiben, werden innerhalb von wenigen Wochen durch die statistische Erfassung identifiziert. Klassenresultate, bei denen 60 Prozent den Stoff verstehen und 40 Prozent nicht, wurden erstmals als unakzeptables Resultat verworfen. Nicht die SchülerInnen, die Lehrkräfte mussten nacharbeiten. Wie kann ich den Stoff besser vermitteln? Wie hören mir die SchülerInnen zu? Tej Stride erzählt, dass sie bei der Lösung so kreativ sein kann, wie sie will, um am Ende die gewünschten Resultate zu erreichen. In Oaklands werden Kinder schon mal am Samstag, Sonntag oder in den Ferien in die Schule gebeten, wenn wichtige Examen anstehen. Zusätzlich beschränkt man sich gerade in der Grundschule auf ein hohes Niveau in Mathematik und Englisch. Mut zur Lücke.
Verdienstorden der Königin
Für ihre erstaunlichen Leistungen im Armutsviertel Tower Hamlets hat Patrice Canavan einen Verdienstorden der Königin verliehen bekommen. Zufrieden ist sie dennoch nicht. „Mir geht es um die paar Prozent, die wir noch nicht erreicht haben.“ Sie träumt von einer „offenen Schule“, einem Angebot für gefährdete Jugendliche. Ob und wann sie in den Unterricht kommen und gehen, sollen sie selbst entscheiden dürfen. Damit, glaubt die Rektorin, könnte man vielleicht noch die Hälfte der Problemkids auf den richtigen Pfad bringen.
Für solche Projekte fehlten derzeit – unter der konservativen Austeritätsregierung – allerdings die Ressourcen. Oaklands oder Elizabeth Selby bemühen sich deshalb auch um Businesspartner – auch dies ein Teil des London Challenge Modells. Oaklands’ derzeitiger Hauptpartner ist die japanische Bank Nakamura. An die Elizabeth-Selby-Schule kommen Geschäftsleute aus dem benachbarten Finanzviertel City of London oder den Docklands in ihrer Mittagspause, um mit den SchülerInnen lesen zu üben. Ein Deal, der auch den Industriepartnern hilft. Ihre Schulbesuche oder -spenden sind gut fürs Prestige. Idealerweise springen später qualifizierte Arbeitskräfte für sie ab.
Mit den privaten Spenden finanzieren die Schulen Projekte wie das „Klassenzimmer mit Schusslöchern“ – eine Partnerschaft zwischen der Oaklands- und einer syrischen Schule. Das Projekt ist eine Reaktion auf die die Propaganda der Terrorgruppe „Islamischer Staat“, der drei Mädchen einer Nachbarschule auf den Leim gingen und nach Syrien reisten.
Bengalisch auf Literaturniveau
Unorthodox sind auch die Unterrichtsmethoden. Die SchülerInnen der 11. Klasse müssen im Kunstunterricht nicht nur die Werke großer Künstler nachzeichnen, sondern auch beschreiben können – dazu brauchen sie Englisch. Im Spanischunterricht geht es vor der großenteils muslimischen Klasse um Worte, die aus dem Arabischen kommen. Neben Englisch und Spanisch gibt es auch Bengalisch auf Literaturniveau. Obwohl die meisten SchülerInnen nicht unbedingt auf multikulturelle Erziehung aus seien, helfe es, glaubt Canavan. Schulreisen gingen in der Vergangenheit sogar nach China und Japan.
Für bessere SchülerInnen investierten die Londoner Schulen auch viel Arbeit in die Eltern, sagt Rektorin Stride. Sie klären sie über die Schulpflicht der Kinder auf, bieten ihnen selbst Sprach- und Alphabetisierungskurse an. Unter den Einwanderern sei der Wille zum Erfolg im Grunde oft hoch, sagt Stride. Schwerer sei es, die Kinder der weißen Arbeiterschicht zu motivieren. „Wir müssen hier den Eltern klar machen, dass ihr Versagen nichts mit den Fähigkeiten der Kinder zu tun hat.“
In Oaklands kommen inzwischen 95 Prozent der Eltern zu den Elternabenden.
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