Menschliches Wohlbefinden: Natur auf Rezept
Dass Zeit im Grünen sich positiv auf die Psyche auswirkt, ist wissenschaftlich belegt. Deshalb wird sie in manchen Ländern von Ärzt*innen verschrieben.

Montagmorgen in einer deutschen Hausarztpraxis: Das Wartezimmer ist voll, hier und da ein Husten, die meisten Patient*innen wollen einfach nur eine Krankschreibung. Einer von ihnen ist der 42-jährige Postbote Paul, dem seine Arbeit gerade zu viel ist. Er fühlt sich ausgebrannt und hat gleichzeitig Angst, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, was seine angespannte finanzielle Situation noch verschlimmern würde. Seine Hausärztin glaubt, dass eine Krankschreibung Paul nicht viel helfen wird. Aber sie hat auch keine andere Möglichkeit. Außerdem wartet schon der nächste Patient im Nachbarzimmer.
Paul gibt es nicht wirklich. Das Szenario wurde von Hendrik Napierala, Arzt und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeinmedizin der Charité, und seinen Kollegen in einem 2024 veröffentlichten Artikel entworfen, um zu erklären, wie naturbasierte Verschreibungen das deutsche Gesundheitssystem revolutionieren könnten. Das Prinzip dahinter ist einfach: Menschen mit psychischen Beschwerden oder chronischen Erkrankungen werden gezielt soziale Aktivitäten in der Natur verschrieben. Das können zum Beispiel eine Wanderung, Kunst im Freien, aktiver Naturschutz oder die Arbeit in einem Gemeinschaftsgarten sein.
In der Wissenschaft finden sich zahlreiche Belege für die heilsame Kraft der Natur. So sinkt im Grünen messbar der Cortisolspiegel, einer der verlässlichsten hormonellen Marker von Stress. Das parasympathische Nervensystem wird aktiviert – das ist der Teil unseres Nervensystems, der mit Ruhezuständen in Verbindung gebracht wird. Umgekehrt ist die Aktivität in der Amygdala, dem Angstzentrum unseres Gehirns, nach einem rund 60-minütigen Spaziergang deutlich reduziert.
Studien belegen außerdem, dass regelmäßige Naturaufenthalte Schlafqualität, Konzentrationsfähigkeit und allgemeines Wohlbefinden verbessern können. Besonders deutlich zeigen sich diese Effekte bei Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen.
In anderen Ländern sind Naturaufenthalte längst Teil von Prävention und Therapie. In Japan gilt Shinrin-Yoku, zu Deutsch: Waldbaden, bereits seit den 1980er-Jahren als anerkannte Methode zur Verbesserung der Gesundheit. Japanische Kliniken bieten Waldbesuche sogar ergänzend zu Krebstherapien an.
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Großbritannien ist europäischer Vorreiter
Auch in Europa wächst das therapeutische Interesse an der Natur. Doch bislang fehlt es an Langzeitdaten. Ein Vorreiter ist Großbritannien. Dort können Ärzt*innen oder andere Fachkräfte das sogenannte Green Social Prescribing nutzen, um ihre Patient*innen an lokale Angebote in der Natur zu vermitteln. Neben grünen gibt es auch „blaue Aktivitäten“ rund ums Wasser, dazu zählen etwa Kanufahren oder Vogelbeobachtungen an Seen.
Die Fachkräfte, an die britische Ärzt*innen ihre Patient*innen verweisen können, heißen Linkworker. In der deutschen Forschung werden sie Brückenbauer genannt. Meist kommen sie aus den Sozial- oder Gesundheitswissenschaften, manchmal sind es auch ehrenamtliche Freiwillige aus der Nachbarschaft. Die Linkworker sollen sich genug Zeit nehmen, um die individuellen Bedürfnisse der Patient*innen zu verstehen. Zeit, die es in Arztpraxen oft nicht gibt.
Wie groß das gesundheitspolitische Potenzial ist, zeigt eine Studie aus Großbritannien. Über einen Zeitraum von vier Jahren untersuchte sie seit 2021 die Wirkung von Green Social Prescribing auf die psychische Gesundheit. 8.300 Menschen nahmen an dem Programm teil, mehr als die Hälfte der Teilnehmer*innen kamen aus sozioökonomisch benachteiligten Regionen Großbritanniens. Ihre Lebenszufriedenheit stieg im Durchschnitt von 4,7 auf 6,8 Punkte, gemessen auf einer Skala von 0 bis 10. Gleichzeitig sank das Angstniveau deutlich.
Auch auf europäischer Ebene laufen Forschungsprojekte. Das Projekt Recetas etwa, das mit fünf Millionen Euro aus EU-Mitteln gefördert wird, testet derzeit in sechs Städten in Europa, Lateinamerika und Australien, wie sich Naturaufenthalte auf soziale Kontakte, Einsamkeit und psychisches Wohlbefinden auswirken.
„Solche Programme kommen vor allem Menschen zugute, die in irgendeiner Form benachteiligt sind“, sagt Hendrik Napierala. Er meint damit körperlich oder psychisch beeinträchtigte Menschen oder Leute, die in prekären Stadtteilen wohnen und nicht genug Geld haben, um sich ein Auto oder einen Urlaub im Grünen zu finanzieren. „Und das Paradoxe ist: Die, die am meisten davon profitieren würden, haben den schlechtesten Zugang zu Grünflächen.“
Auch sind Menschen mit geringerem Einkommen häufiger gesundheitlich eingeschränkt und nehmen ärztliche Vorsorgeleistungen weniger in Anspruch, wie Studien zeigen. Soziale oder naturbasierte Verschreibungen könnten die Lebenszufriedenheit dieser Menschen steigern und sie aus der sozialen Isolation holen.
Das wiederum könnte zu weniger Krankschreibungen, weniger Einnahmen von Medikamenten und weniger stationären Aufenthalten führen. Britischen Daten zufolge könnte mit Social Prescribing jährlich ein hoher Millionenbetrag eingespart werden, da teuren Therapien präventiv vorgebeugt werden könnten.
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In Deutschland noch nicht verbreitet
Dass Naturverschreibungen nicht so in die deutsche Regelversorgung integriert sind wie Medikamente oder Psychotherapien, liegt vor allem an den starren Strukturen des deutschen Gesundheits- und Sozialsystems. Zum einen werden medizinische und soziale Leistungen in unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern organisiert. Krankenkassen sind somit formal nicht für soziale Probleme zuständig. Strenge Datenschutzgesetze und die ärztliche Schweigepflicht erschweren zudem den Informationsaustausch zwischen Sozial- und Gesundheitswesen.
Zum anderen werden wichtige gesundheitspolitische Entscheidungen nicht von der Bundesregierung getroffen. Meist sind die Bundesländer und ihre Gesundheitsämter verantwortlich, teils auch selbstverwaltete Gremien, in denen Ärzt*innen, Krankenhäuser und Versicherungen jeweils ihre eigenen Interessen vertreten.
Radikale Reformen bundesweit umzusetzen, ist daher schwierig. Das wurde zuletzt durch das Projekt „Gesundheitskiosk“ des ehemaligen Gesundheitsministers Karl Lauterbach deutlich. Die flächendeckende Einführung scheiterte an Fragen der Zuständigkeit und Finanzierbarkeit.
Trotzdem gibt es in Deutschland Pilotprojekte, die sich mit der medizinischen Wirkung von Natur beschäftigen. In Berlin und Brandenburg untersucht ein Team um den Charité-Forscher Hendrik Napierala beispielsweise, ob Aufenthalte in der Natur Stress so reduzieren können, dass Betroffene wieder arbeitsfähig werden und seltener wegen psychischer Ausnahmezustände ins Krankenhaus müssen. Erste Ergebnisse werden noch erwartet.
Es gibt bereits eine Kur- und Kneipptradition
Bereits abgeschlossen ist ein Projekt in Freiburg. Im Rahmen einer Kooperation zwischen der Universität und der Stadt Freiburg hatten Hausärzt*innen 2024 die Möglichkeit, ihren Patient*innen kostenlose Baumpatenschaften zu verschreiben. Ziel war es, das Wohlbefinden der Patient*innen zu fördern und gleichzeitig die städtische Biodiversität zu stärken.
Doch weil es aDn ausreichendem Interesse und Unterstützung durch Hausärzt*innen mangelte, wurde die Idee nach Projektende nicht weiterverfolgt, sagt Projektleiterin Kelly Baldwin Heid, Geobotanikerin an der Uni Freiburg. „Ich hoffe aber, das Projekt in Zukunft wieder aufzunehmen. Das Thema hat in Deutschland enormes Potenzial.“
„Wir müssen in der Medizin stärker präventiv denken“, sagt Hendrik Napierala. „Gerade im Bereich psychischer Gesundheit könnte man vielen Problemen vorbeugen.“ Deutschland habe mit Kuren, Kneipp-Anwendungen oder Heilbädern eine Tradition, an die sich anknüpfen ließe. Immer mehr Rehakliniken und psychosomatische Kliniken integrieren naturtherapeutische Angebote in ihre Behandlungen.
Um Green Social Prescribing dauerhaft zu etablieren, müssten jedoch groß angelegte randomisierte Studien die positiven Effekte auf die Gesundheit belegen. Auf dieser Grundlage könnte der Gemeinsame Bundesausschuss neue Leistungen definieren, die von den Krankenkassen übernommen werden.
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