Menschenrechtler zu Gefechten in Nahost: „Ganze Familien kamen um“
Human Rights Watch wirft Israel „offenkundige Kriegsverbrechen“ im Krieg gegen die Hamas im Mai vor. Menschenrechtler Gerry Simpson erklärt, warum.
Zwei Monate nach den Gefechten zwischen Israel und militanten palästinensischen Gruppen im Gazastreifen hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch Israel „offenkundige Kriegsverbrechen“ vorgeworfen. Am Dienstag veröffentlichte sie den ersten Teil eines Berichts. Dieser stützt sich auf eine Untersuchung von drei israelischen Luftangriffen, bei denen 62 palästinensische Zivilist:innen starben. Ein zweiter Teil zu Aktionen militanter Palästinenserorganisationen soll im August erscheinen.
Bei den 11-tägigen Auseinandersetzungen im Mai waren mindestens 256 Palästinenser:innen, darunter 66 Kinder, getötet worden; auf Israel flogen 4.360 Raketen und Mörsergranaten, denen 13 Menschen, darunter zwei Kinder, zum Opfer fielen.
taz: Herr Simpson, weder Israel noch palästinensische Behörden gehen ihrer Verantwortung nach, Kriegsverbrechen zu untersuchen. Welche Wirkung erhoffen Sie sich von der Veröffentlichung Ihres Berichts?
Gerry Simpson: Unser Ziel ist es, dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) den Weg zu einer eingehenden Untersuchung zu weisen. Dieser hat in diesem Jahr zum ersten Mal die Gelegenheit, zeitnah zu ermitteln und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Unsere Recherchen zu drei israelischen Luftangriffen zeigen, dass durch Angriffe israelischer Streitkräfte ganze Familien umkamen, ohne dass es in der Nähe militärische Ziele gab: zum Beispiel in einem Wohnhaus, in dem Zivilist:innen schliefen. Auf unsere Nachfrage hin wich das israelische Militär mit einem sehr allgemein gehaltenen Antwortschreiben aus. Bei einer Ermittlung des IStGH könnte sich die Armee so etwas nicht leisten.
58, ist stellvertretender Direktor für Krisen und Konflikte bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Er lebt in Seattle und Genf.
Israel brüstet sich damit, die moralischste Armee auf der Welt zu haben. Die israelische Journalistin Amira Hass behauptet aber, dem Innenministerium liege das gesamte Bevölkerungsregister der Bewohner:innen in Gaza vor und die Regierung nehme bewusst „Kollateralschäden“ an palästinensischen Zivilist:innen hin.
Diese These ist stark. Wir können nur spekulieren und das macht die Rolle des IStGH so wichtig. Nach dem Kriegsvölkerrecht ist das Militär verpflichtet, Zivilist:innen zu schützen. Wenn Menschen dennoch sterben, muss die Proportionalität zur militärischen Notwendigkeit bei der Kampfführung nachgewiesen werden, etwa wenn ein ranghoher Hamas-Kämpfer aufgespürt wird. Wie viele Menschenleben werden dafür von der Armee als legitim erachtet? Und warum? Das sind wichtige Fragen, auf die uns Antworten fehlen, denn oft haben wir keine zuverlässigen Angaben zu den Angriffszielen.
Bei einem der Angriffe behauptet das Militär, die Zivilist:innen seien von eigenen palästinensischen Raketen getroffen worden. Die Luftbilder, die von der Armee als Beweis aufgeführt werden, belegen das aber nicht wirklich. Unsere Ermittlungen zeigen, dass der Angriff von Osten, also von israelischer Seite kam und es sich um einen Fernflugkörper handelte, der Menschen unter freiem Himmel angreift.
Israelische Angriffe verursachten zwanzigmal mehr Opfer als die Raketen der Hamas. Was tut die Hamas zum Schutz ihrer Zivilbevölkerung?
Im August wird eine Untersuchung erscheinen, die Raketenangriffe militanter palästinensischer Gruppen auf israelischem Territorium untersucht, und solche, die fehlschlugen und versehentlich in Gaza explodierten. Bisher fehlen uns Angaben, ob diese Gruppen auch Raketen aus Wohngebieten abfeuerten. Aber wenn Angriffsziele in dicht besiedelten Wohngebieten platziert werden, bedeutet das, sie verstoßen gegen das Kriegsrecht, indem sie vorsätzlich Zivilist:innen in Gefahr von Militäraktionen bringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland