Menschenrechte in Russland: Die letzten Reste der Zivilisation
Russlands älteste Menschenrechtsorganisation wird per richterlichem Urteil verboten. Die Vorwürfe sind an Absurdität nicht zu überbieten.
I mmerhin: Zumindest an der Heimatfront läuft es für Russlands Präsidenten Wladimir Putin und seine Entourage rund – vorgeblich. Per Gerichtsbeschluss wurde nun auch die Moskauer Helsinki-Gruppe zur Strecke gebracht, wobei der Exekutionsbefehl direkt aus dem Kreml gekommen sein dürfte. Dummerweise konnten die Behörden die Aktivist*innen in Ermangelung von Fremdfinanzierung aus dem Westen nicht als „ausländischen Agenten“ abstempeln.
Wohl auch deshalb waren die Vorwürfe, wie so oft, an Absurdität nicht zu überbieten: Die Gruppe soll ihren Aktionsradius nicht auf das Gebiet der russischen Hauptstadt beschränkt haben. Die Wahrheit ist wohl eher, dass sich die Betroffenen „zu allem Überfluss“ auch noch offen gegen den Ukraine-Krieg positionierten und ihrer Heimat beraubte Ukrainer*innen in Russland unterstützten. All das gilt seit dem 24. Februar 2022 als Staatsverrat.
Der Fall der ältesten Menschenrechtsorganisation des Landes zeigt, jedoch einmal mehr in besonders erschreckender Weise, wohin dieses Land mittlerweile gekommen ist. Die Gründung der jetzt getilgten Nichtregierungsorgaisation war eine Antwort auf die Schlussakte von Helsinki im Jahre 1975, die unter anderem die Unverletztlichkeit der Grenzen (!) sowie die Wahrung der Menschenrechte festschrieb.
Schon damals, zu Sowjetzeiten, zahlten die Menschenrechtsverteidiger*innen für ihr Engagement mit langen Haftstrafen, Zwangspsychiatrisierung oder erzwungenem Exil. Dennoch waren und blieben Ost und West fortan im Gespräch. Nicht zuletzt ging es für die Sowjetunion auch darum, ihr Gesicht zu wahren. Und heute? Putin hat längst alle Masken fallen lassen. Noch die letzten Reste der Zivilgesellschaft auszumerzen und zum Schweigen zu bringen ist die Zielvorgabe.
Genauso Programm ist der Krieg, den Moskau nicht mehr nur gegen die Ukraine, sondern gegen den sogenannten kollektiven Westen führt. Dessen Ziel – so hämmern es die Chefpropagandist*innen den Menschen im staatlichen Auftrag ein – sei kein geringeres, als Russland zu vernichten. Rationalen Erklärungsversuchen entzieht sich diese Paranoia schon länger. Und was die Zerstörung Russlands betrifft: Dazu braucht es den Westen wahrlich nicht. Das besorgt Putins Regime schon selbst. Fragt sich nur, wie viel Zeit er noch dazu benötigt.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott