Menschenrechte in Russland: Der Erinnerung beraubt
Der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial droht das Aus. Die Opfer des sowjetischen Geheimdienstes sollen vergessen werden.
W enn die Sonne im Frühsommer scheint, auf dieses Feld im Süden Moskaus, dann blendet das satte Grün rundherum fast die Augen. Eine weite Landschaft. Ruhig ist sie, fast still – und schrecklich. Bilder von Gefangenen, von Getöteten sind hier an eine Gedenkwand am Rande aneinandergereiht. Magere Gesichter, in Schwarz-Weiß.
Mehr als 20.000 Menschen haben die Schergen der sowjetischen Geheimpolizei während der stalinistischen Säuberungen der 1930er Jahre hier in Butowo hingerichtet, mit Schüssen in den Hinterkopf, im kleinen Wäldchen in Kommunarka bei Moskau und in Sandarmoch in Karelien, im Norden des Landes, in Ufa, in Gorno-Altaisk und in Magadan.
An so vielen Orten quer durch Russland sind Menschen Opfer vom sowjetischen Terror geworden. An einigen finden sich heute Denkmäler, die manchmal mit einem Stein, manchmal mit langen Gedenktafeln und Tausenden von Namen daran erinnern. Dass die Opfer ihre Namen zurückhaben, dass ihr Leben sichtbar wird und ihr Sterben, dass vielleicht auch ihre Geschichte erzählt wird – das ist mitunter der Menschenrechtsorganisation Memorial zu verdanken, der ältesten in Russland.
Bereits zu Sowjetzeiten, als das Land sich mit der Perestroika Michail Gorbatschows zu öffnen begann, schlossen sich Dissidenten, die einst zu Verbannung und Straflager verurteilt worden waren, in Moskau zusammen und fanden schnell Nachahmer im ganzen Land. Den Opfern ein Mahnmal zu schaffen, war ihr Ziel. Damit soll nun Schluss sein.
ist taz-Korrespondentin. Sie studierte Französisch, Russisch und Ethnologie in Heidelberg, Nizza und St. Petersburg. Nach ihrer journalistischen Ausbildung in Mannheim arbeitete sie als freie Journalistin zunächst in Moskau, später in Peking und Berlin. Seit 2018 lebt sie wieder in der russischen Hauptstadt.
Der russische Generalstaatsanwalt hat vor dem Obersten Gericht des Landes die Liquidierung von Memorial gefordert. In der gegenwärtigen politischen Lage Russlands dürfte dieser Antrag einem Urteil gleichkommen. Es ist ein Zeugnis dessen, dass der Staat seinen Menschen ihr Gedächtnis raubt, dass er ihre Erinnerung auslöschen will und sie mundtot macht.
Systematisch attackiert
In den vergangenen Monaten hatte es in Russland viele Gerichtsentscheide gegeben, die die Repressionsmaschine von Präsident Wladimir Putin offenlegten. Organisationen und Menschen landen regelmäßig auf der Liste „ausländischer Agenten“ des Justizministeriums. Bisweilen reichte es schon, wenn eine Tante aus Armenien Geld aufs russische Konto überwiesen hatte. „Ausländische Finanzierung“ schrien die loyalen Beamt*innen im vorauseilenden Gehorsam.
Memorial steht seit Jahren auf dieser Liste und hat, so der Vorwurf, „systematisch“ gegen die Auflagen verstoßen. Seit Jahren kämpft die Organisation gegen Attacken gewaltbereiter Traditionalisten, die die Büros stürmen und Memorial-Mitarbeiter*innen angreifen. Die NGO kämpft gegen diffamierende Beiträge im Staatsfernsehen, setzt sich für ihre Vertreter*innen in den Regionen ein, die in absurden Prozessen vorgeführt werden und in Straflager kommen.
Erst vor wenigen Wochen hatten vermummte Angreifer eine Filmvorführung von Memorial in Moskau gestört. Die angerückte Polizei setzte aber nicht den randalierenden Mob fest, sondern die Memorial-Mitarbeiter*innen – und verschloss die Eingangstür von außen mit Handschellen. Ein finsteres Symbol. Die mögliche Liquidierung von Memorial als Hüterin der Erinnerung an Lager und Terror ist ein gewaltiger Einschnitt in der Bürgergesellschaft.
Der Antrag überschreitet eine psychologische Barriere im immer repressiver werdenden Apparat von Putins Russland. Und er zeigt: Das Geschichtsmonopol hat einzig und allein der Staat. Putin als Chefhistoriker verkündet die „historische Wahrheit“, die auf Heldentum baut. Der Staatsterror, dem Millionen sowjetischer Bürger zum Opfer fielen, hat keinen Platz in dieser Glanzgeschichte. Er soll vergessen werden.
Die Arbeit von Memorial beeinflusse die sittliche und geistige Entwicklung von Kindern, heißt es auf den zwölf Seiten umfassenden Papier, mit denen die jahrzehntelange Geschichts- und Bildungsarbeit der Menschenrechtler*innen zunichtegemacht werden soll. Es ist also unmoralisch, sich mit seiner Familie zu beschäftigen, mit den Großvätern, die erschossen und verscharrt wurden, mit den Großmüttern, die jahrelang auf eine Nachricht warteten oder ebenfalls im Lager zugrunde gingen.
Stumme Menschen ohne Vergangenheit
Mit den Eltern, die als Kinder schon zu „Volksfeinden“ abgestempelt waren, die gemieden wurden und gebrochen und die dieses Trauma an ihre Enkel weitergeben. Der Schrecken der sowjetischen Vernichtungsmaschinerie prägt jede Familie in Russland bis heute, denn es ist wenig aufgearbeitet, weil sich Familienmythen halten und Angst allgegenwärtig ist, geschürt auch vom jetzigen Regime, dessen Geheimdienstler stolz darauf sind, sich Tschekisten zu nennen, wie die Geheimpolizisten schon zu Zeiten Lenins.
Der Putin’sche Apparat macht die Russ*innen zu Menschen ohne Gedächtnis und ohne Vergangenheit. Stattdessen breitet sich Stalins Konzept von Volksfeinden aus. Kritik am russischen Staat und an seiner Führung gilt als Nestbeschmutzung, schnell werden die Kritiker*innen zu Extremist*innen und Terrorist*innen erklärt.
Das Menschenrechtszentrum von Memorial hat das angemahnt, hat offen von politischen Gefangenen in Russland gesprochen, hat sich für die Rechte politisch Verfolgter im Nordkaukasus eingesetzt und für die Rechte von LGBTQI+, für all das „Böse“ in den Augen der konservativen Führung des Landes also – und wird nun bezichtigt, Extremismus und Terrorismus zu unterstützen.
Die Menschen sollen verstummen, die Jugendlichen nicht mehr herausfinden, was sich vor Jahrzehnten in ihrer Umgebung abgespielt hatte. Die Vergangenheit ist tabu, die Gegenwart vom Staat kontrolliert. Die Einschüchterung setzt sich fort und zeigt sich in den Reaktionen nach der schockierenden Nachricht vom drohenden Aus für Memorial: Viele Menschen im Land nehmen sie als alltäglich hin.
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