Menschen in Kassel sind am glücklichsten: Zufrieden im Mittelmaß
Kassel ist laut einer neuen Studie die glücklichste Stadt Deutschlands. Wie bitte?! Unsere Autorin kommt aus Kassel und versucht es zu verstehen.
Kassel, du bist für mich ein Traum aus Asphalt“, sangen die „Echten Kerle“ 2011 a cappella auf der klebrigen Bühne meiner Gesamtschule. Nach dem mittelmäßigen Auftritt blieb ein wochenlanger Ohrwurm, den wir bei Grillfesten auf dem Bundesgartenschau-Gelände weiter sangen, „nie zu nass und nie zu trocken, nie zu warm und nie zu kalt“. Von diesem kurzen Hype der Heimatverbundenheit ist bei mir nach der Schule wenig geblieben. Nichts wie weg, dachte ich eher. Lieber raus aus der Stadt, bei der man nach der Abifeier um 11 Uhr nachts mit dem Bier in der Hand nach Hause läuft, weil man dachte, es passiert noch was und dann passiert nichts mehr.
Doch auch wenn es überrascht: Irgendwas scheint an der nordhessischen Großstadt toll zu sein. Denn sie ist im SKL Glücksatlas des Allensbacher Instituts dieses Jahres zur glücklichsten Stadt Deutschland erkoren worden. Noch überraschender ist der erste Platz, weil Kassel in vielen objektiven Faktoren eher mittelmäßig abschneidet. Zuletzt „stieg die Arbeitslosigkeit auf 8,4 Prozent. Im Ranking der Lebensqualität liegt die nordhessische Stadt nur auf Rang 16 von 40“, steht auf der Glücksatlas-Website. Kassel, wie viele andere Städte in den oberen Rängen der Liste, gehört damit zu den sogenannten „Overperfomern“, da das subjektive Glücksempfinden über der erfassten „tatsächlichen“ Lebensqualität liegt.
Warum ist das so? Auch nach jahrelangem Abstand kann ich höchstens mittelmäßige Worte über Kassel finden. Schlimm zum Beispiel, dass in Soziokultur so wenig investiert wird. Man könnte ja vielleicht mal versuchen, die jungen Menschen, die wegen der Kunst-Uni in der Stadt kommen, auch zum Bleiben zu motivieren. Stattdessen wurde der einzig annehmbare Technoklub, das Arm, vor einigen Jahren geschlossen und ein beliebter Treffpunkt, die Perle II, nun auch. Oder den absurd teuren und schlechten ÖPNV angehen (drei Euro für ein Einzelticket in der Innenstadt, wo sind wir hier? In Berlin oder was?). In dem Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin, fährt bis heute kein Bus nach 22 Uhr (Wo sind wir hier? Auf dem Dorf oder was?).
Die Documenta gibt's, immerhin
Vielleicht, denke ich aber, ist es bei diesem phänomenalen Ergebnis im Glücksatlas an der Zeit, mit dem Meckern, dem „Gemähre“, wie es in der Mundart heißt, aufzuhören und mit einem frischen Blick auf die Stadt zu schauen. Schließlich sehen auch die über 700.000 Besucher*innen der internationalen Ausstellung für Moderne Kunst, documenta, die dort alle fünf Jahre stattfindet, in Kassel eine Perle. Zumindest für Kurztrips scheint die Stadt also okay zu sein.
Laut dem Institut Allensbach finden sich die glücklichsten Menschen in Städten, „die familiär, beschaulich, sicher und grün geblieben“ sind. Warum sie in Kassel leben, das habe ich in den letzten Jahren Freund*innen und meine Familie gefragt. Die Antworten decken sich mit den Ergebnissen des Glücksatlasses: Man könne gut Radfahren und Spazieren. „Ich kenne keine Stadt, in der man loslaufen kann und stundenlang nur alte Bäume, Parks und keine Autos sieht“, sagte kürzlich eine Freundin zu mir.
Nagut, es gibt einige Sachen, mit denen Kassel angeben kann und die Leute mit Stolz sagen lässt: Die Stadt hat sich gemacht! Mit über 2,4 Quadratkilometer ist der Bergpark Wilhelmshöhe der größte Europas und Weltkulturerbe – und wunderschön! Die sommerlichen Wasserspiele an den Kaskaden des Denkmals Herkules – auch toll! Die Fulda, die direkt an der Innenstadt vorbeiführt – deutsche Adria!
Mystische Stadt
Die Überbleibsel der documenta, wie etwa ein Bronze-Baum oder ein riesiger Fotorahmen, die nach der Ausstellung in der Stadt blieben – ziemlich sympathisch. Und schließlich hat Kassel trotz der Einschnitte eine beachtliche Kulturszene aufgebaut, die international erfolgreiche Band Milky Chance kommt auch aus Kassel – Zufall? Ich glaube nicht.
Glücklich macht Kassel aber wahrscheinlich gerade deswegen, weil es eben nicht overperformt. Einwohner*innenzahl mittel, nicht zu viel Lärm, nicht zu viel Arbeitslosigkeit, die Mieten sind ok, geografisch liegt es sogar in Deutschlands Mitte. Für viele von außerhalb bleibt Kassel ein Mysterium, die meisten kennen vielleicht den nicht wirklich einladenden Willi-Bahnhof, weil sie dort immer umsteigen und danach behaupten Kassel zu kennen.
Oder ihnen kommt – Achtung grober Fehler – der Kassler Braten in den Kopf. Der kommt aber gar nicht aus Kassel. Die deutsche Salciccia „ahle Wurscht“ dafür übrigens schon. Gut für Kasseler, Kasselaner oder Kasseläner (je nachdem, wie viele Generationen schon in Kassel gelebt haben). So bleibt alles, wie’s ist, und die Leute glücklich. Oder wie man hier sagen würde: das Mittelmaß, s’ schigget.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies