Mehr Wissenschaft im Journalismus: Ewige Suche nach dem B-Sager

In Redaktionen braucht es mehr Wissenschaft, so das Fazit einer Arbeitsgruppe. Das würde auch beim Umgang mit Politikern wie Merz oder Maaßen helfen.

Anja Martini in einem Redaktionsgebäude

Die Wissenschaftsjournalistin Anja Martini Foto: Christian Spielmann/NDR

Gehaltvolle Infos über die Zukunft des Journalismus bekommt man normalerweise nicht von Ministerien. Eine Ausnahme ist ein Reader, den das Bundesministerium für Bildung und Forschung kurz vor der Sommerpause veröffentlicht hat. Titel: „#FactoryWisskomm – Handlungsperspektiven für die Wissenschaftskommunikation“. Eine Arbeitsgruppe, die sich auf Initiative des Ministeriums gebildet hatte, schreibt darin: „Wissenschaftsjournalismus ist wichtig in allen Ressorts.“ In allen? Tatsächlich eine wichtige Erkenntnis aus Debatten über Journalismus während der Pandemie. Denn wenn wir über die Zukunft des Wissenschaftsjournalismus reden, müssen wir über den Journalismus als Ganzes reden.

Wissenschaftsjournalismus müsse stärker „mit anderen journalistischen Bereichen, etwa Politik und Wirtschaft“ vernetzt werden, heißt es in dem Papier. Das hat ARD-aktuell, die Hamburger Redaktion hinter „Tagesschau“ und „Tagesthemen“, bereits umgesetzt. Seit Beginn des Jahres berichtet Anja Martini für „Tagesschau“, tagesschau.de und Tagesschau 24. Martini gehörte 2020 in der Wissenschaftsredaktion von NDR Info zu den Moderatorinnen des Podcasts mit Christian Drosten.

„Wissenschaftliche Erkenntnisse für die Berichterstattung zu prüfen, einzuordnen und verständlich zu vermitteln – das ist für die „Tagesschau“ während der Coronapandemie noch wichtiger geworden“, sagt Marcus Bornheim, der Erste Chefredakteur von ARD-aktuell. Eine weitere Aufgabe Martinis, so Bornheim: „Sie berät die Nachrichtenredaktionen bei Wissenschaftsthemen.“ Plastischer formuliert: Martini filtert gegebenenfalls Studien heraus, die keine Nachricht wert sind – etwa, wenn sie lediglich Lobbyisteninteressen dienen, aber im wissenschaftlichen Gewand daherkommen.

„Das ist eine Rolle, die es in Nachrichtenredaktionen in der Regel bisher nicht gibt“, sagt Franco Zotta, Geschäftsführer der Wissenschaftspressekonferenz (WPK). Das Bild, das Zotta skizziert, ist beunruhigend: Offenbar war es bisher gang und gäbe, dass für Nachrichten zuständige Re­dak­teu­r:in­nen Studien verbreiteten, die Wis­sen­schafts­jour­na­lis­t:in­nen im selben Medienhaus als abenteuerlich eingestuft hätten.

Fatale Folgen in der Pandemie

Dass der Wissenschaftsjournalismus bisher ungenügend vernetzt war mit anderen Ressorts, hatte während der Pandemie fatale Folgen. So lässt sich jedenfalls eine Einordnung von Volker Stollorz zusammenfassen. Stollorz leitet das Science Media Center Germany, das Ex­per­t:in­nen an den Journalismus vermittelt und bei der Einschätzung von Forschungsergebnissen hilft. Im Herbst 2020 sei es „vielen gewissenhaft arbeitenden Wissenschaftsjournalisten“ nicht mehr gelungen, „ihrem Publikum den breiten fachlichen Konsens über die drohende winterliche Welle klarzumachen“, schrieb Stollorz im Januar.

Viele Medien haben Zweifel geweckt an dem, was wissenschaftlich längst Konsens war

Denn viele Medien hätten Zweifel geweckt an dem, „was längst wissenschaftlicher Konsens war“. Stollorz, der wie Zotta zur #Fac­toryWiss­komm-­Arbeitsgruppe gehörte, beklagt die „übermächtigen Reflexe, jede Einschätzung aus der Wissenschaft mit einer Gegenposition zu kontrastieren“. Auch der Journalismus trägt somit gewissermaßen eine Mitverantwortung für Tausende Pandemietote.

Die „Reflexe“, die Stollorz beschreibt, wiederholten sich im März 2021: „In eine steigende Welle hinein beschloss die Politik Lockerungen, die sie wenige Wochen später wieder zurücknehmen musste“, sagt Franco Zotta. Als die Entscheidung fiel zu lockern, „hatten wir eine Kakophonie an Positionen, sodass die Politik sagen konnte: Die Wissenschaft weiß es nicht.“ Alle seriösen Wissenschaftler wussten es indes sehr wohl: Sie hatten zu dem Zeitpunkt von Lockerungen abgeraten.

Warum aber wecken Jour­na­lis­t:in­nen Zweifel am wissenschaftlichen Konsens? Während Wis­sen­schafts­jour­na­lis­t:in­nen darauf schauen, wie oft jemand in der Fachliteratur zitiert wird, um einen Experten einschätzen zu können – der Klimaforscher Stefan Rahmstorf hat das in einem Beitrag für den Spiegel beschrieben –, hat der Politikjournalismus andere Maßstäbe.

Ein großes Missverständnis

„Wenn einer A sagt, sucht der Politik­journalist jemanden, der B sagt.“ Das sei beim Streit über Meinungen völlig legitim, sagt Zotta. „Aber bei den Fragen, über die wir in den letzten eineinhalb Jahren gestritten haben, ist das nicht der richtige Zugang.“ Das Problem sei: „Man findet immer jemanden, der nicht A sagt. Diese Wissenschaftler warten ja nicht darauf, dass ein Journalist anruft, sondern sie versuchen, in den öffentlichen Raum einzudringen – aus welchen Motiven auch immer.“

Ähnlich argumentierte in einer Bilanz des ersten Pandemiejahres die Medizinjournalistin Silke Jäger von Krautreporter: Nur weil jemand „Sachbücher schreibt“, sei er noch lange kein „ernstzunehmender Gesprächspartner“. Es sei „ein großes Missverständnis, dass der wissenschaftliche Diskurs dem politischen Diskurs gleicht. Wis­sen­schaft­le­r:in­nen streiten durch ihre Forschungsarbeit. Wer nicht publiziert, redet nicht mit.“

Als Kritiker dieser Position hat sich jedoch der Medien- und Politikjournalist Andrej Reisin zu Wort gemeldet. Er moniert bei Übermedien, dass gut vernetzte und hoch dekorierte Wis­sen­schafts­jour­na­lis­t:in­nen „eine merkwürdige Art von Gatekeeping“ betrieben, indem sie entschieden, „wer als Ex­per­t:in genehm und welches Thema diskussionswürdig ist“.

„Wenn es interessierten Kreisen gelingt, den Eindruck zu erwecken, dass im Prinzip keiner weiß, was richtig oder falsch ist – dann handeln Gesellschaften nicht“, warnt dagegen Franco Zotta. Das sei „kommunikationstheoretisch gut erforscht“. Jene, die so einen Eindruck erzeugen wollen, bezeichnen die Wis­sen­schafts­his­to­ri­ke­r*in­nen Naomi Oreskes und Erik M. Conway als „merchants of doubt“ (Händler des Zweifels). In ihrem gleichnamigen Buch zeigen sie auf, dass an der Schädlichkeit des Rauchens bereits in den 1960er Jahren kein wissenschaftlicher Zweifel bestand – aber noch 30 Jahre lang so darüber diskutiert wurde, als wäre der Wissensstand nicht klar.

Abstruse Positionen verbreitet

Ein anderer Umgang mit inhaltlicher Substanz wäre nicht nur bei Wissenschaftsthemen wünschenswert. Im digitalen Politik- und Nachrichtenjournalismus zählt ja nicht die Qualität oder Relevanz einer Politikeräußerung, sondern die bei der Verbreitung zu erwartende Reichweite.

So werden ohne jegliche weitere Einordnung abstruse politische Positionen verbreitet, die aus anderen Gründen gefährlich sind als eine irrelevante Mindermeinung eines in die Öffentlichkeit drängenden Wissenschaftlers. Die Geschäftsmodelle von Friedrich Merz oder Hans-Georg Maaßen funktionieren nur deshalb, weil der Journalismus in dieser Hinsicht verantwortungslos handelt.

Die Voraussetzung dafür, dass der Wissenschaftsjournalismus den Journalismus in Gänze befruchten kann, wäre, dass sich Redaktionen zumindest teilweise von ihrer bisherigen Reichweitenstrategie verabschieden. Nachrichten- und Po­li­tik­jour­na­lis­t:in­nen müssten dem Druck widerstehen, alles ganz schnell in die Info-Stratosphäre zu pusten, weil die anderen es auch tun. Um es pathetischer oder eben mit Kant zu sagen: Sie bräuchten den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen.

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