Mehr Frauen in die Parlamente: Nach 100 Jahren wird’s mal Zeit
Der Frauenrat startet am Donnerstag eine neue Kampagne. Frauen sollen nicht länger in deutschen Parlamenten unterrepräsentiert sein.
Es ist nur ein kleines Wort, das den Unterschied zwischen der historischen Forderung der Frauen im 19. Jahrhundert und der Forderung der heutigen Frauen markiert. „Frauen in die Parlamente!“ war der alte Slogan, der schließlich dazu führte, dass Frauen in Deutschland am 19. Januar 1919 zum ersten Mal wählen und gewählt werden durften. Genau 100 Jahre später fordert der Deutsche Frauenrat angesichts der ernüchternd ungleichen Verhältnisse in der deutschen Politik: „Mehr Frauen in die Parlamente!“
Im Bundestag sind derzeit mit knapp 31 Prozent so wenig Frauen vertreten wie seit 20 Jahren nicht, im Landesparlament von Baden-Württemberg liegt der Frauenanteil bei gerade mal einem Viertel. Nicht einmal 10 Prozent aller deutschen BürgermeisterInnen sind Frauen.
„Wir fordern die in den Parlamenten vertretenen Parteien auf, im Rahmen von Wahlrechtsreformen sicherzustellen, dass Männer und Frauen je zur Hälfte die Mandate in den Parlamenten innehaben“, heißt es in dem Aufruf des Frauenrats, der am Mittwochabend in Berlin veröffentlicht wurde. Zudem müssten die Rahmenbedingungen, die Frauen zu einer politischen Karriere ermutigen könnten, verbessert werden.
„Die Hälfte der Bevölkerung besteht aus Frauen, aber ihre Perspektiven sind in der Politik eklatant unterrepräsentiert“, sagte Elke Ferner, Vorstandsmitglied und Leiterin des Fachausschusses Parität in Parlamenten und Politik im Deutschen Frauenrat, der taz. „Aber wir wollen nicht nur die Sichtweisen der älteren biodeutschen Männer.“
Eine neue Kampagne
Um das zu ändern, startet der Frauenrat, mit rund 60 Mitgliedsorganisationen die größte frauen- und gleichstellungspolitische Interessenvertretung Deutschlands, nun eine Kampagne. Geeinigt auf das Thema hat sich die Mitgliederversammlung des Frauenrats nur mit Jastimmen und einer Enthaltung – bemerkenswert einhellig für einen Dachverband, der fast 12 Millionen Frauen repräsentiert und in dem Organisationen fast aller Parteien, religiöse Verbände, Verbände von Landfrauen, Ärztinnen, Müttern, Sportlerinnen oder Ingenieurinnen vertreten sind.
An diesem Donnerstag wird eine Website freigeschaltet, über die Unterschriften für ein Paritätswahlgesetz gesammelt werden sollen. Rund 220 Frauen haben bereits unterschrieben, darunter frühere Bundesministerinnen wie Herta Däubler-Gmelin oder Brigitte Zypries, die Präsidentin der Deutschen Unesco-Kommission, Maria Böhmer, und derzeitige frauenpolitische SprecherInnen der Bundestagsfraktionen. „Nur die AfD haben wir gar nicht erst gefragt“, sagte die Sozialdemokratin Elke Ferner.
Der Zeitpunkt der Kampagne ist gut gewählt: Das historische Jubiläum gibt Rückenwind, Politikerinnen wie die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock oder die SPD-Ministerinnen Katarina Barley und Franziska Giffey haben eine Erhöhung des Frauenanteils in den Parlamenten erst kürzlich gefordert. Selbst die christdemokratische Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte bei einem Festakt zur Einführung des Frauenwahlrechts im November: „Das Ziel muss Parität sein.“
Auch auf Ebene der Bundesländer bewegt sich etwas. Seit Mittwoch gebe es in Brandenburg eine Mehrheit für den Paritätsgesetzentwurf der grünen Landtagsfraktion inklusive Änderungsantrag, sagte die Landesgleichstellungsbeauftragte Monika von der Lippe. Das Gesetz sieht ein Reißverschlussverfahren für die Landeslisten vor, in den kommenden Wochen soll es im Landtag verabschiedet werden.
Das erste Bundesland mit Paritätsgesetz
„Brandenburg wäre damit das erste Bundesland mit einem Paritätsgesetz“, sagte von der Lippe. Bei der kommenden Wahl am 1. September würde das Gesetz noch nicht zum Tragen kommen, bei der darauf folgenden 2024 schon. Auch in Thüringen und Baden-Württemberg wurde eine paritätische Besetzung von Wahllisten in den Koalitionsverträgen verankert.
Und eine Wahlrechtsreform auf Bundesebene steht ohnehin an – allerdings erst einmal nicht, um Parität zu erreichen, sondern um den Bundestag zu verkleinern. Seit der Bundestagswahl 2017 gibt es 709 statt der eigentlich vorgesehenen 598 Abgeordneten, da seit 2013 alle Überhangmandate ausgeglichen werden. Im Mai hatte Bundestagespräsident Wolfgang Schäuble deshalb erklärt, in der laufenden Legislatur eine Änderung des Wahlrechts durchsetzen zu wollen. Die Kommission aus Schäuble und den parlamentarischen GeschäftsführerInnen tagt bereits.
Ziel des Frauenrats ist es nun, mit der Wahlrechtsreform auch die Parität im Gesetz zu verankern. Zwei konkrete Vorschläge macht der Verband dazu: Entweder müsse zum Einstimmenwahlrecht gewechselt oder das Verhältnis von Direkt- und Listenmandaten verändert werden, heißt es in dem Aufruf.
Beim Wechsel zum Einstimmenwahlrecht würde ein reines Verhältniswahlrecht entstehen, das auf Bundes- und/oder Landeslisten aufbaut, die Listen würden zwingend quotiert. Vorteil wäre, so der Frauenrat, dass Parität annähernd erreicht würde. Nachteil wäre, dass die Direktwahlkreise entfallen, die bei einem reinen Verhältniswahlrecht nicht mehr vorgesehen wären. Auch bei einer Veränderung des Verhältnisses von Direkt- und Listenmandaten würden die Listen quotiert.
Bis zur nächsten Bundestagswahl
In den Direktwahlkreisen müssten Tandems aus jeweils einer Frau und einem Mann vorgeschlagen werden, die nur gemeinsam zur Wahl antreten können. Ein Nachteil, so der Frauenrat: Die Größe des Bundestags, die Bundestagspräsident Schäuble mit der Wahlrechtsreform eigentlich verringern will, würde wegen Überhang- und Ausgleichsmandaten weiter über der gesetzlichen Anzahl von Abgeordneten liegen.
Vorgesehen, sagte Ferner, sei in den Vorschlägen zwar formell die Parität von Frauen und Männern. „Menschen dritten Geschlechts könnten in den jeweiligen Entwürfen aber selbst entscheiden, ob sie auf Frauen- oder Männerplätzen kandidieren“, sagte sie. „Das ist eine lösbare Frage.“
Skepsis kommt von anderer Stelle: In der Vergangenheit hatte etwa der konservative Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio bezweifelt, dass derlei Änderungen „mit unseren Wahlrechtsgrundsätzen und mit der Freiheit der Parteien vereinbar wären“. Solche Argumente seien „das absolute Totschlagargument“, kritisierte Ferner. „Wir setzen dagegen, dass das in erster Linie eine politische Entscheidung ist.“ Wenn ein Paritätsgesetz gewollt sei, „findet man Möglichkeiten, es rechtlich abzusichern.“
Das neue Wahlrecht soll, geht es nach dem Frauenrat, schon bei der nächsten Bundestagswahl 2021 gelten – dafür müsste es bis zum Frühsommer nächsten Jahres gesetzlich verankert sein. 102 Jahre nach der ersten deutschen Nationalversammlung, in der von 423 Abgeordneten schließlich 37 Frauen waren, stünden damit die Chancen gut, dass der Bundestag die Geschlechterverteilung der Republik repräsentiert – und von knapp 600 vorgesehenen Abgeordneten des Deutschen Bundestags 300 Frauen wären.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste