Medikamentenmangel bei STIs: Sommer, Sonne, Syphilis
Sexuell übertragbare Krankheiten sind in Berlin verbreitet, doch es fehlt an Medikamenten. Die Linke fordert vom Senat mehr Engagement.
Senat
Währenddessen stehen Patient*innen und Apotheken vor einem Problem: Nachdem der Lieferengpass für HIV-Medikamente sich gerade erst entspannt hat, herrscht zurzeit ein Mangel an Wirkstoffen zur Behandlung von Chlamydien, Gonorrhoe (Tripper) und Syphilis.
Besonders fehlen die Antibiotika Doxycyclin und Azithromycin, die auf der WHO-Liste für unentbehrliche Arzneimittel stehen. Doxycyclin kann nach einem Risikokontakt, zumeist ungeschütztem Sex, eingesetzt werden und bestenfalls eine Infektion mit Syphilis und Chlamydien verhindern. Wer aber nicht behandelt werden kann, ist auch bei Infektionen, die von selbst ausheilen, länger ansteckend. Wer länger ansteckend ist, steckt potenziell auch öfter andere an.
Doch die Breitbandantibiotika werden nicht nur bei sexuell übertragbaren Krankheiten (STIs), sondern auch bei Infektionen des Magen-Darm-Traktes und der Atemwege eingesetzt. Zudem ist der Engpass bei „Doxy“ für Patient*innen mit Penicillin-Allergie gefährlich: Für manche ist der Wirkstoff die einzige Alternative.
Senat hofft auf den Markt
In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken nennt der Senat unzureichende Produktionskapazitäten für Doxycyclin und einen Mangel wegen erhöhter Nachfrage bei Azithromycin. Man gehe aber davon aus, dass sich die angespannte Versorgungslage „kurzfristig stabilisieren“ werde. Dennoch heißt es, dass bereits kleinere Störungen in der Lieferkette zu schwerwiegenden Engpässen führen.
Am Markt gebe es eine Konzentration auf nur wenige Anbieter, die fast alle außerhalb Europas produzieren. Tatsächlich hätte sich der Versorgungsengpass von Doxycyclin laut Herstellermeldungen bereits Ende Juli entspannen sollen. Dies wurde nun korrigiert, mit einer Normalisierung der Lieferkapazitäten wird jetzt erst ab Ende September gerechnet.
Carsten Schatz, gesundheitspolitischer Sprecher der Linken, fordert, dass sich der Senat in die Debatte über die sich bundesweit häufenden Engpässe mehr einbringt. „Berlin braucht für seine Einwohner*innen ein Sicherheitsnetz, gerade wenn es um die Versorgung mit wichtigen Medikamenten geht. Derzeit sind 50 Prozent des Bedarfs an Doxy nicht gedeckt.“
Versorgung nur durch Tricks
Einer, der sich darum bemüht, ein Sicherheitsnetz für die Berliner*innen zu schaffen, ist Tobias Hermann. Der Apotheker hat „kinkgesund“ gegründet, eine Initiative der Bezirksapotheken. Sie berät rund um die Themen sexuelle Gesundheit, Medikation und risikoarmen Drogenkonsum. Hermann arbeitet in der Bezirksapotheke Friedrichshain mit dem Schwerpunkt HIV und sexuell übertragbare Krankheiten.
„Unser Ziel ist es, einen Raum zu schaffen, in dem alle Fragen offen gestellt werden können – ohne Scham oder Vorurteile“, sagt Hermann der taz. Gerade in einer Zeit, in der Themen wie HIV, Tripper und Syphilis oft missverstanden oder tabuisiert würden, sei es wichtig, den Menschen fundierte Informationen und Unterstützung zu bieten.
Während viele Apotheken Kund*innen wegschicken oder vertrösten müssen, konnte die Bezirksapotheke Friedrichshain die Versorgung bisher aufrechterhalten. „Bei Azithromycin haben wir Abhilfe geschaffen, indem wir Tabletten mit geringerer Wirkstoffmenge bestellt haben“, erklärt Hermann. „Die Umstellung bedeutet aber auch, dass Patient*innen mehr Tabletten einnehmen müssen, das kann das Risiko von Einnahmefehlern erhöhen.“
Der Linke-Politiker Carsten Schatz vermutet, dass die Lieferengpässe ein Druckmittel der Pharmahersteller gegen die Preispolitik sind. Deutschland zahlt den Herstellern vergleichsweise wenig für Wirkstoffe. Sobald ein Mangel entsteht, werden andere Länder bevorzugt beliefert. Die USA etwa zahlen teilweise das Dreifache.
Kein funktionierendes System
Gleichzeitig offenbart sich hier ein europäisches Problem: Die Systeme zur Meldung von Engpässen erfolgen erst, wenn sie bereits bestehen. Vorwarnungen gibt es nicht. Engpässe bei Wirkstoffen, die nur als „versorgungsrelevant“, nicht aber als „versorgungskritisch“ eingeordnet werden, werden sogar nur auf freiwilliger Basis durch die Hersteller gemeldet. Das betrifft auch Doxycyclin.
Bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) wird der Engpass von Azithromycin und Doxycyclin nicht einmal angezeigt. Alle europäischen Länder haben unterschiedliche Listen von versorgungskritischen Arzneistoffen. Ein europaweites Überwachungssystem ist zurzeit noch in Arbeit.
Apotheker versuchen, sich angesichts des ineffizienten Systems selbst zu helfen. „Einer unserer Kollegen ist Spanier und checkt für uns die Meldungen zur Lieferbarkeit auch im System der spanischen Arzneimittelbehörde, dadurch konnten wir teilweise Medikamente schneller bestellen als andere“, so Hermann.
Ein großes Risiko seien zudem die Produktionsketten: „Asien hat ein Monopol bei der Medikamenten- und Wirkstoffherstellung. Es muss dringend wieder in der EU und auch in Deutschland produziert werden, damit wir uns aus dieser Abhängigkeit befreien können.“ 63 Prozent der Wirkstoffherstellung für den europäischen Markt erfolgt in Asien, lediglich 5 Prozent werden in Deutschland produziert.
Der Senat hält derweil eine „gesonderte Aktivität des Landes Berlin weder für angezeigt noch für sinnvoll“. Auch plane man nicht die Bevölkerung über die Medikamentenengpässe zu informieren. Befürchtet wird eine „Verunsicherung des gesamten Betroffenenkreises“. Das sei „hinsichtlich einer Verbesserung der Versorgungslage“ nicht hilfreich.
Carsten Schatz fordert, dass der Senat gegenüber der Bundesregierung und der EU aktiv wird. „Medikamentenversorgung gehört zur Daseinsvorsorge, das kann man nicht dem Markt überlassen.“ Freiheit und Diversität der Hauptstadt zu preisen sei eine Sache, sich darum zu kümmern, dass dafür auch der Rahmen stimmt, eine andere. „Hier versagt der Senat.“
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