#MeToo bei der Polizei: Macht missbraucht
In Baden-Württemberg ist der oberste Polizeibeamte in einem #MeToo-Fall angeklagt. Es ist durchaus möglich, dass der Polizist freigesprochen wird.
M an kann in Menschen nicht hineinschauen, aber nach außen scheint es, als ob an Andreas Renner alles abperlt. Neun Prozesstage wird vor dem Stuttgarter Landgericht über Intimstes aus seinem Leben verhandelt. Nacktbilder und Videos, die er an ihm untergebene Polizeibeamtinnen verschickt hat, seine sexuellen Vorlieben, die mit Urin zu tun haben und die das mutmaßliche Opfer Katja A. in einer Sprachnachricht später als „eklig“ bezeichnet.
Renner hört sich das an, seine Frau, selbst Polizeibeamtin in gehobener Position, dabei stets an seiner Seite. Gemeinsam betreten sie an jedem Prozesstag Hand in Hand das Gericht durch den Haupteingang. Sie adrett mit einer Handtasche, auf deren Band „Stay Strong“ steht. Er immer in dunklem Anzug und Krawatte, korrekt frisiert und glatt rasiert. Die Botschaft: Ich habe nichts getan, wofür ich mich schämen müsste. Renner schweigt im Prozess, macht nicht einmal Angaben zur Person, als seien es die anderen, die etwas zu erklären hätten. Seine Anwältin sagt am ersten Prozesstag, dieser Prozess gegen ihren Mandaten habe nie eröffnet werden dürfen, denn er beruhe auf den „Lügen“ von Katja A., des vermeintlichen Opfers.
Nur als Katja A. unsichtbar für die Öffentlichkeit am Prozess teilnimmt und in der unmittelbaren Sichtachse Renners sitzt, scheint ihm das etwas aus zu machen. Seine Anwältin versucht zu erwirken, dass sich Katja A. woanders hinsetzt. Das Gericht lehnt das ab. Katja A., die in Wirklichkeit anders heißt, bleibt im Prozess für die Öffentlichkeit unsichtbar. Aber ihre Schwester, die hier Anke heißen soll, berichtet davon, wie die Vorfälle im November 2021 das Wesen ihrer Schwester verändert hätten. „Sie ist seitdem so sensibel und nah am Wasser gebaut – ich sehe meine Aufgabe darin, sorgsam mit ihr umzugehen“, sagt sie.
Es ist ein Prozess, in dem es um das Machtgefälle geht zwischen dem obersten Polizeibeamten des Landes und einer 32 Jahre jungen Beamtin, deren Karriere entscheidend von eben diesem Mann abhing. Es scheint, als würde sich dieses Machtgefälle im Prozess weiter fortsetzen. Der eine sichtbar und scheinbar ungebrochen, die andere schamhaft unsichtbar und auf der Flucht vor der Öffentlichkeit.
Dabei ist es für die Nebenklage natürlich schon ein erster Erfolg, dass überhaupt öffentlich über Machtmissbrauch und mutmaßliche sexuelle Nötigung in der baden-württembergischen Polizei verhandelt wird. Inzwischen sind weitere Fälle in der Polizei Baden-Württemberg bekannt geworden. Ein Untersuchungsausschuss im Landtag prüft neben der Beförderungspraxis auch grundlegende Fragen im Personalwesen. Das Innenministerium hat nach dem Fall Renner gemeinsam mit dem Personalrat erstmals für die Behörde sowie für die Polizei definiert, wo sexuelle Handlungen beginnen und wie sie geahndet werden. Das Sozialministerium des Landes hatte erst wenige Wochen vorher als Behörde eine solche Vereinbarung getroffen. Aber Standard ist das noch lange nicht.
Katja A. zahlt für all das einen enormen persönlichen Preis. Sie muss mit anhören, wie sie von der Verteidigung Renners als Lügnerin bezeichnet wird, es wird versucht, sie als moralisch verwahrlost dastehen zu lassen. Auch ihr Intimleben wird seziert, wenn auch das Meiste davon in nicht-öffentlicher Sitzung. Sie wurde in ihre Dienststelle zurückversetzt. In der Pressestelle des Innenministeriums, die nun Auskunft über das Verfahren gegen Andreas Renner geben muss, konnte sie nicht bleiben. Die Polizeipräsidentin sagt vor Gericht, das sei zu ihrem eigenen Schutz passiert, sie könne jederzeit erneut am Auswahlverfahren für den höheren Dienst teilnehmen. Die Schwester sagt, Katja sehe das zwar ein, aber es fühle sich an wie eine doppelte Bestrafung.
Vielleicht das Schlimmste für die Nebenklägerin: Es ist nach neun Prozesstagen nicht ausgeschlossen, dass für das, was sich Andreas Renner nach Lage der Dinge hat zu Schulden kommen lassen, das Strafrecht keine Antwort bereit hält. Es könnte zum Freispruch kommen.
2016 hat die Regierung Merkel den Nötigungsparagrafen reformiert. Eigentlich soll es seitdem nicht mehr um die Frage gehen, wie sich das mutmaßliche Opfer verhalten hat – sondern ob sich der Täter über ein erkennbares Nein hinweggesetzt hat. Doch gab es dieses Nein? Das Gericht wird größte Mühe haben das zu klären, und das liegt nicht an den Richtern. Der Vorsitzende Volker Peterke versucht mit Gelassenheit und Güte die Emotionen zu schlichten. Seine Beisitzerin Miriam Sprengel beweist in ihren Fragen beste Aktenkenntnis. Doch bei der für diesen Prozess entscheidenden Schlüsselsituation steht, wie so oft in Me-Too-Fällen, Aussage gegen Aussage.
Im Laufe des Prozesses rekonstruieren sich die Ereignisse so: Der 12. November 2021 ist eigentlich ein Freudentag für die junge Polizeibeamtin Katja A. Sie ist von ihrer Dienststelle ins Innenministerium abgeordnet und arbeitet dort in der Pressestelle, im unmittelbaren Umfeld der Landes-Polizeipräsidentin und des Inspekteurs der Polizei. Katja A. ist im Auswahlverfahren für den höheren Dienst. Der oberste Chef, Polizeiinspekteur Renner, will sich persönlich als Mentor um sie kümmern. Das erfährt sie beim Personalgespräch mit ihm, das am Nachmittag im Büro von Andreas Renner stattfindet. Die Polizeipräsidentin ist anwesend, zeitweise auch andere Beamte. Es wird Sekt getrunken, A.s Karriere nimmt jetzt Fahrt auf.
Am frühen Abend geht es mit Kollegen und dem Polizeiinspekteur in eine Kneipe namens „Kraftpaule“ in unmittelbarer Nähe zum Innenministerium. Eine anscheinend entspannte Feierabendrunde unter Kollegen. Offenbar keine Seltenheit in der Polizeiabteilung des Innenministeriums.
Katja A. vertraut im Verlauf des Abends Renner auch Privates an, so berichtet es ein Kollege, der dabei war. Dass sie immer an die falschen Männer gerate, und dass sie gerade eine schmerzhafte Scheidung hinter sich habe. Der Kollege wundert sich. Als sich die Runde auflöst, bietet er Katja an, sie nach Hause zu bringen. Doch die junge Frau geht auf Einladung Renners lieber mit ihrem obersten Chef noch in dessen Stammkneipe „Corner“. Da ist es schon nach Mitternacht.
Was dort passiert, davon kann sich die Öffentlichkeit an zwei Prozesstagen ein recht gutes Bild machen. Denn der Abend wurde von einer Überwachungskamera festgehalten, deren Aufnahmen im Gericht gezeigt werden. Zwischen teils tanzenden Gästen und Fans des VfB Stuttgart sitzen ein hochgewachsener Mann im dunklen Anzug mit einer schlanken blonden Frau auf Barhockern. Beide umarmen sich, bald kommt es zu Küssen. Die Frau in weißer Bluse und mit offenen Haaren ist offenbar angetrunken, aber nicht willenlos. Sie legt ihre Hand in seinen Nacken, legt den Kopf an die Schulter des Chefs, weicht seinen Annäherungen nicht aus. Ein heftiger Flirt, ein Paar, das dabei ist, sich zu finden, so scheint es. Auch die Wirtin sagt, zu keinem Zeitpunkt habe sie das Gefühl gehabt, da geschehe irgendetwas gegen den Willen von Katja A. So geht das über fast vier Stunden.
Später in der polizeilichen Vernehmung sagt Katja A. aus, zu diesem Zeitpunkt habe sie schon Schlimmeres verhindern wollen. Renner habe ihr gestanden, dass es ihn errege, Frauen beim Urinieren zuzusehen. Sie habe das „eklig“ und „abartig“ gefunden und habe gewusst: Egal, was passiert, an diesem Abend werde sie auf keinen Fall auf Toilette gehen.
Trotzdem geht sie um drei Uhr mit, als Andreas Renner vorschlägt die Kneipe kurz zu verlassen, „um Luft zu schnappen“. Was draußen passiert, wurde von keiner Kamera aufgezeichnet. Tatsache ist: Draußen öffnet Renner seine Hose und beginnt, Wasser zu lassen. Strittig ist, ob er, wie Katja A. Tage später ihrer Schwester berichtet, „meine Hand genommen hat und an seinen Schwanz geführt hat“. Oder ob sie, wie es der Angeklagte in seiner Vernehmung ausgeführt hat, ihm selbst an sein Geschlecht gegriffen hat.
Ziemlich offensichtlich ist, dass Katja A. diesen Abend schnell bereut. In einer Sprachnachricht, die vor Gericht abgespielt wird, hadert sie damit, nicht einfach nach Hause gegangen zu sein: „Ich hatte irgendwie Wurzeln an den Füßen“. In der Nacht hatte sie ihre Schwester noch gebeten, sie abzuholen. Die war müde und hatte das abgelehnt. In den Tagen danach schickt sie ihr Nachrichten: „Ich war mit dem IDP weg, das war keine gute Idee. Er will mit mir in die Kiste, ich will das definitiv nicht“. Die Schwester versteht erst nicht, mit wem A. unterwegs war. Dann schreibt sie: „Höchster Polizeibeamter des Landes? Alter, Du Idiot“. Die Schwester rät, ihm klar zu machen, dass sie das nicht will. Katja antwortet: „Ich hoffe, dass er mit dem Korb umgehen kann.“
Katja A. offenbart sich in den Tagen danach einem Kollegen im Innenministerium. Zu ihm unterhält sie eine Affäre, die immer mal wieder beendet wird. Der Mann ist verheiratet. Als er von den Geschehnissen erfährt, rät er A., Renner anzuzeigen. Das setzt eine Maschinerie in Gang, in der Katja A. wieder nicht die handelnde Person ist. Über ihren Geliebten erfährt der Vertrauensbeamte der Abteilung von den Vorgängen. Der Mann sagt vor Gericht aus, dass Katja A. Zweifel gehabt habe, ob sie Anzeige erstatten soll. Sie habe sich gesorgt, dass sie „als Schlampe dastehe“. Er habe ihr dann gesagt, wenn sie keine Anzeige erstatte, müsse er es tun. Denn Renner könnte eine Straftat begangen haben.
Während diese Gespräche laufen, meldet sich Andreas Renner immer wieder bei Katja A. Fünf Tage nach dem Treffen in der Kneipe kommt es zum Videotelefonat zwischen den beiden. Der Mitschnitt wird vom Gericht als Beweismittel zugelassen, obwohl Katja A. ihn illegal angefertigt hat. Er wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgespielt. Darin soll Renner gesagt haben, dass Katja A. nur Vorteile hätte, wenn er eine Beziehung mit ihr einginge. Ist das schon Nötigung, weil es im Rückschluss ja heißen kann, dass sie, wenn sie ihn zurückweist, diese Vorteile nicht habe? Und hätte er nicht, wenn es ihm um eine echte Beziehung gegangen wäre, versichern müssen, dass auch ihre Ablehnung keine Nachteile für die Beamtin bedeute?
Lässt man die Frage beiseite, ob der Polizeiinspekteur Renner die junge Frau in der Nacht vor dem „Corner“ zu einer sexuellen Handlung genötigt hat: Es besteht nach neun Prozesstagen kaum noch ein Zweifel daran, dass der oberste Polizeibeamte des Landes seine Machtposition ausgenutzt hat. Das wird an weiteren Fällen deutlich, die im Zuge der Ermittlungen bekannt wurden. Schon 2019 soll Renner einer untergebenen Polizeibeamtin, die sich in einem Auswahlverfahren für den höheren Dienst befand, Fotos und Filme von sich in sexuellen Posen geschickt haben.
Hätte diese Frau die Bilder gemeldet, wäre Renners Karriere wohl schon hier beendet gewesen. Aber als ihr Verlobter die Frau darauf anspricht, sagt sie: Das sei eben „der Fetisch des Inspekteurs“, dagegen werde sie nichts unternehmen. Der Mann, ebenfalls Polizist und mit Renner gut bekannt, schickt ihm darauf eine Nachricht: „Wenn man ein Schwanzbild im Kinderzimmer seines Kindes macht, ist eine Grenze überschritten. Such Dir Hilfe, das ist echt krank“. Renner antwortet nur kühl, er sei unrechtmäßig im Besitz der Bilder und solle sie bitte löschen. Bei einer Hotline des Innenministeriums meldet sich später noch mindestens eine weitere Betroffene.
Umso erstaunlicher, dass all das so lange verborgen blieb. Alle, die mit Renner gearbeitet haben, äußern sich ausnehmend positiv über ihn als Kollegen. Er wird als besonnen und angenehm geschildert. Keiner will Defizite in Person oder Charakter erkannt haben. Damit hat Renner nach einer Blitzkarriere mit 50 Jahren bereits den höchsten Posten erreicht, den die Landespolizei zu vergeben hat. Das ist auch deshalb ungewöhnlich, weil man diesen Posten damit für mehr als 16 Jahre belegt, denn es gibt keine weitere Beförderung. Verstopfung der Karrierewege nennen das Beamte. Das macht man eigentlich nicht.
Renner konnte sich jedoch der Protektion des Innenministers Thomas Strobl und des parlamentarischen Staatssekretärs Siegfried Lorek gewiss sein. Auch die Polizeipräsidentin Stefanie Hinz, die ihn dann recht entschlossen von den Dienstgeschäften entfernt hat, kannte Renner von früher. Ob Renners Beförderung mit rechten Dingen zuging, versucht jetzt der Untersuchungsausschuss zu klären.
Der Prozess gegen Renner wird am Freitag mit Zeugen fortgesetzt, die den Machtmissbrauch im Amt beweisen sollen. Ein Urteil ist noch im Sommer zu erwarten. Wird Renner freigesprochen, könnte ihn noch eine Strafe über das Disziplinarverfahren ereilen. Dieses behördeninterne Verfahren ruht, während der Prozess vor dem Landgericht läuft. So lange bekommt Renner auch seinen hohen Beamtensold weiter.
Unabhängig vom Strafrecht wird am Ende ein Verwaltungsgericht entscheiden, ob Renner Dienstvergehen begangen hat und ob er dafür in der Besoldung herabgestuft oder gar aus dem Beamtenverhältnis entfernt wird. Nach allem, was inzwischen bekannt ist, kann man sich nur schwer vorstellen, dass Andreas Renner jemals wieder Personalverantwortung erhält.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden
Parteitag der CDU im Hochsauerlandkreis
Der Merz im Schafspelz