Massenproteste in Georgien: Ein Land wehrt sich
Tausende demonstrieren auf den Straßen Georgiens für einen europäischen Kurs und Neuwahlen. Die Putinfreunde in der Regierung reagieren autoritär.
Meine und Ratianis Generation demonstrierte schon vor 35 Jahren auf dem Rustaweli-Prospekt gegen das Sowjetregime, heute übernehmen vor allem die Jüngeren. Damals wie heute geht es um Freiheit und Demokratie.
Doch nie zuvor war die Hoffnung größer, dass Georgien es wirklich schafft, mit seiner autoritären sowjetischen Vergangenheit zu brechen. Gleichzeitig war auch die Angst nie größer, dass das Land auf seinem Weg in die Europäische Union scheitern könnte. Vielleicht sind die Proteste heute so etwas wie der letzte Kampf um die Zukunft Georgiens.
Widerstand trotz massiver Polizeigewalt
Am 28. November erklärte der aktuelle Premierminister Georgiens, Irakli Kobachidse von der Partei „Georgischer Traum“, dass das Land von seiner Seite aus bis Ende 2028 keine Beitrittsverhandlungen mit der EU aufnehmen werde. Kurz nach dieser Ankündigung gingen Zehntausende Georgierinnen und Georgier in der Hauptstadt Tbilisi auf die Straße. Seit sechs Tagen protestieren sie trotz massiver Polizeigewalt entschlossen und erbittert für eine europäische Zukunft Georgiens. Sie fordern Neuwahlen.
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Am ersten Tag versammelten sich rund 180.000 Menschen allein auf dem Rustaweli-Prospekt in Tbilisi. Der Ruf aus der Hauptstadt wurde gehört und beantwortet: Auch in Batumi, Kutaissi, Sugdidi, Gori und vielen anderen Städten protestieren alte und junge Menschen, Künstler und Arbeiter, Hochschullehrer und Schulkinder. Die 80 Prozent der proeuropäischen Georgierinnen und Georgier, die in Umfragen immer wieder genannt werden, werden nun endlich auf den Straßen sichtbar.
Georgien, die Ukraine und Moldau sind Schauplätze des revanchistischen Kampfes Russlands, seinen Einfluss im postsowjetischen Raum und in Osteuropa wiederherzustellen. Russlands Präsident Wladimir Putin versucht eine Entwicklung Richtung Europa mit militärischen und hybriden Mitteln zu verhindern.
In Georgien, wie auch in der Ukraine und in Moldau, bedeutet der russische Einfluss die Rückkehr zu den Zuständen, von denen sie sich in den Jahren 1989 bis 1991 befreit haben. Wenn die Menschen in Georgien für die europäische Zukunft ihres Landes demonstrieren – für einen demokratischen Rechtsstaat, für bessere Bildung und Gesundheitsversorgung, für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz und für ein Leben ohne Bedrohung von außen und ohne Angst, für ein falsches Wort entlassen oder gar polizeilich verfolgt zu werden –, kämpfen sie gleichzeitig darum, die damals erstrittene Freiheit zu bewahren.
Georgien entwickelt sich zunehmend zur Autokratie
Georgien galt unter den postsowjetischen Staaten lange als Vorreiter der EU-Integration. Doch mit der Machtübernahme der Partei Georgischer Traum, geführt von dem in Russland reich gewordenen Oligarchen Bidsina Iwanischwili, entwickelt sich Georgien zunehmend zu einer Autokratie. Iwanischwili hat nie verheimlicht, dass persönliche Interessen für ihn wichtiger sind als die seines Landes. Selbst wenn er einen Mitarbeiterausweis des russischen Geheimdienstes in der Schublade hätte, hätte er die Abkehr Georgiens vom Westen kaum erfolgreicher orchestrieren können.
Die Integration in die EU und Nato sind als außenpolitisches Ziel in der georgischen Verfassung verankert. Seit 1991 hat jede Regierung – trotz massiver innenpolitischer Differenzen – an diesem außenpolitischen Kurs festgehalten.
Vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wurde die Idee eines Beitritts von Georgien in der EU oft mit einem müden Lächeln quittiert. Doch nach Russlands Invasion 2022 öffnete sich ein Fenster der Möglichkeiten: Mit der Ukraine und Moldau laufen bereits Beitrittsverhandlungen, 2023 erhielt Georgien den Kandidatenstatus. Doch ausgerechnet jetzt, da der EU-Beitritt für Georgien greifbar scheint, torpediert die eigene Regierung den Prozess.
Die Beitrittsverhandlungen mit der EU sind mittlerweile ausgesetzt, die strategische Partnerschaft mit den noch demokratisch regierten USA wurde erst vor wenigen Tagen beendet. Georgien ist außenpolitisch isoliert und Russland ausgeliefert – eine Entwicklung, die Putin persönlich gelobt hat.
Verdacht auf Wahlmanipulation
Die Parlamentswahlen am 26. Oktober sollten eine Entscheidung bringen über den zukünftigen Kurs. Im Wahlkampf hetzte die Regierung gegen die Opposition und die Zivilgesellschaft, setzte Schlägertrupps auf den Straßen ein, kaufte Stimmen und drohte Staatsbeamten sowie Angestellten des öffentlichen Dienstes mit ihrer Entlassung, sollten sie und ihre Familienangehörigen nicht die Regierungspartei wählen. Zudem schürte sie Angst vor einem Krieg mit Russland, falls sie abgewählt würde.
Auch wenn keine freien und fairen Wahlen erwartet wurden, prognostizierten die Meinungsforschungsinstitute noch am Wahltag einen Sieg der Opposition. Am Ende erreichte jedoch die Regierungspartei eine Mehrheit von 54 Prozent.
Der Verdacht auf Wahlmanipulation war groß. Die Wählerinnen und Wähler waren frustriert und fühlten sich wie von Hütchenspielern ausgetrickst. Die Opposition versuchte Demonstrationen zu organisieren, jedoch mit wenig Erfolg. Noch-Präsidentin Salome Surabischwili legte Beschwerde beim Verfassungsgericht ein.
Das Präsidialamt ist das letzte Verfassungsorgan, das sich Iwanischwilis heimlicher Herrschaft noch entzieht. Doch auch das will er jetzt unter Kontrolle bringen. Im Dezember stehen die Präsidentschaftswahlen an. Zum ersten Mal soll das Staatsoberhaupt nicht mehr direkt, sondern von einem durch die regierende Partei dominierten Wahlgremium gewählt werden. Als Kandidat wurde Micheil Kawelaschwili vorgeschlagen, ein ehemaliger Fußballspieler ohne Hochschulabschluss, der in der letzten Legislaturperiode der antieuropäischen Partei „Kraft des Volkes“ angehörte und durch frauenfeindliche, homophobe und fremdenfeindliche Äußerungen auffiel. Von ihm wäre kein Widerstand gegen den autoritären Kurs der Regierung zu erwarten.
Regierung reagiert mit Gewalt
Doch die im November erneut aufgeflammten Proteste wuchsen und übertrafen zuletzt selbst die Massendemonstrationen vom Mai. Sie überstiegen sogar die Menschenmengen der Rosenrevolution im November 2003 und erreichten das Ausmaß der nationalen Befreiungsbewegung von 1989.
Die Regierung reagiert mit Gewalt und Drohungen. Sie setzt Spezialeinheiten auf den Straßen ein, die mit Wasserwerfern und Tränengas versuchen, die Demonstranten zu vertreiben. Die Protestierenden werden in Polizeiwagen geprügelt, gefoltert, mit Tod und Vergewaltigung bedroht. Die Wohnungen und Büros von Aktivisten, NGOs und Politikerinnen werden durchsucht. Der von Polizisten krankenhausreif geprügelte Dichter Zwiad Ratiani wurde von einem Iwanischwili-Richter für acht Tage ins Gefängnis geschickt. Den Fernsehjournalisten Guram Rogawa hat eine Polizeispezialeinheit am Kopf verletzt, er liegt im Krankenhaus.
Diese massive Gewalt verfolgt nur ein Ziel: die Menschen einzuschüchtern. Sie sollen, wie in Belarus, Angst bekommen, zum Protest auf die Straße zu gehen. Vor allem die jungen Menschen, die nicht in einer Diktatur leben wollen, organisieren sich trotzdem, kaufen Motorradhelme, Atemschutzmasken und wasserfeste Kleidung, um sich vor der Polizeigewalt zu schützen. Sie lernen die Tränengasbomben zu entschärfen und schlagen mit Silvesterböllern zurück. Schulklassen und Universitäten stricken Pläne und rufen zum Generalstreik auf.
Der Protest soll die autoritäre Regierung zu Neuwahlen zwingen. Außenpolitisch setzt die ihre Hoffnung jetzt auf Donald Trump. Entgegen dem vulgär-prahlenden Ton, den Premier Kobachidse der EU gegenüber anschlug, versucht er sich nun beim designierten US-Präsidenten anzubiedern: „Es wird so sein, wie Donald Trump es sagen wird.“
Hoffen auf die EU
Obwohl die Signale aus den USA der georgischen Regierung wenig Hoffnung machen, spielt diese auf Zeit. Sie möchte den Protesten den Wind aus den Segeln nehmen und versucht, ihre verbliebenen Anhänger zu mobilisieren. Die glauben tatsächlich immer noch daran, dass die Regierung das Land irgendwann in die EU führen will.
Die proeuropäischen Georgierinnen und Georgier brauchen jetzt Unterstützung. Die Angst, dass sich die Geschichte wiederholt und Georgien wie im Winter 1921 seine Unabhängigkeit an Russland verliert, ist groß. Damals kam die erhoffte Hilfe aus Europa nicht. Wenn die EU nicht klar Position bezieht, wird das die jetzige Regierung ermutigen, noch brutalere Gewalt anzuwenden. Das EU-Parlament hat bereits Neuwahlen in Georgien gefordert. Der Bericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zweifelt daran, dass die jüngsten Wahlen den Willen der Wählerinnen und Wähler widerspiegelten. Der Bericht einer OSZE-Beobachtermission steht noch aus.
Doch die EU als Ganze, inklusive ihrer Mitgliedstaaten, muss sich jetzt rasch, klar und deutlich positionieren. Jeder Tag des Schweigens und jedes Foto, das europäische Politiker mit den Funktionären des Iwanischwili-Regimes machen, bedeutet mehr Polizeigewalt, mehr verhaftete und misshandelte georgische Aktivistinnen und Aktivisten. Sollte die EU-Kommission die jüngsten Wahlergebnisse nicht anerkennen, dann müsste sie Neuwahlen fordern, Sanktionen ins Spiel bringen und auch durch persönliche, hochrangige Besuche dem Regime nicht erlauben, den friedlichen Willen der georgischen Bevölkerung zu brechen.
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