Martin Schulz will Agenda 2010 justieren: Gegenwind für die Reform der Reform
Kanzlerkandidat Martin Schulz will eine „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“. Die CDU ist entsetzt, Arbeitgeber ebenso.
Der Chef der Unionsfraktion, Volker Kauder, warf Schulz vor, mit dem Vorstoß die falschen Prioritäten zu setzen. Nötig sei stattdessen eine „gewissen Flexibilität“ im Arbeitsrecht.
Auslöser der Debatte ist ein unter der Federführung von Nahles ausgearbeitetes Konzept für Arbeitsmarktreformen. Der Plan, der der Nachrichtenagentur Reuters vorliegt, soll am Montag dem SPD-Vorstand vorgelegt werden, wie Schulz bei einer SPD-Regionalkonferenz am Samstag in Würzburg ankündigte.
Er sieht unter anderem eine längere Zahlung von Arbeitslosengeld I vor, vorausgesetzt, dass die Erwerbslosen an einer Qualifizierungsmaßnahme teilnehmen. Für die Dauer der Qualifizierung soll ein neues „Arbeitslosengeld Q“ eingeführt werden, dass ebenso hoch wie das Arbeitslosengeld I ist, aber nicht auf dessen Bezugsdauer angerechnet wird. Die Bundesagentur für Arbeit soll gesetzlich verpflichtet werden, Arbeitslosen ein Qualifizierungs-Angebot zu machen, wenn sie innerhalb von drei Jahren keine neue Beschäftigung finden. Zudem soll die Schwelle für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I verringert werden. Für Hartz-IV-Bezieher soll der Vermögensfreibetrag erhöht werden, der nicht auf die Grundsicherung angerechnet wird.
Schulz selbst verteidigte in Würzburg seinen Ansatz, die Reformen der Agenda 2010 in Teilen zu korrigieren. Als diese entworfen wurde, habe es über fünf Millionen Arbeitslose gegeben, argumentiert er. Heute aber sei das Kardinalproblem ein wachsender Fachkräftemangel. Damit rücke Qualifizierung ins Zentrum. „Heute ist das Schlüsselwort, egal wo in der Welt der Arbeit, Qualifizierung und Weiterbildung“, sagte er.
Er kündigte an, die Bundesagentur für Arbeit zu einer „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ weiterzuentwickeln. „Wir wollen auch, dass es einen Rechtsanspruch für Qualifizierung gibt“, ergänzte er. Das diene dem Ziel, wirtschaftlich stark zu halten. In SPD-Kreisen wurden die Kosten der Konzept auf rund eine Milliarde Euro im Jahr zulasten der Arbeitslosenversicherung veranschlagt.
In den eigenen Reihen stieß Schulz auf viel Unterstützung. Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft forderte im „Deutschlandfunk“ zudem grundlegende Regelungen, um die Befristung von Arbeitsverhältnissen ohne Grund einzudämmen. SPD-Generalsekretärin Katarina Barley betonte die Notwendigkeit, die Arbeitsmarktreformen aus dem Jahr 2003 auf den Prüfstand zu stellen und zu modernisieren. Der SPD-Parteilinke Matthias Miersch nannte es gut, dass Schulz und Nahles die Initiative übernähmen und einen ersten konkreten Schritt für mehr Sicherheit und Zusammenhalt gingen.
Unions-Politiker Kauder nannte die Verteidigung der weltweiten Spitzenstellung Deutschlands in Technik und Produktion die Hauptaufgabe der Politik, nicht die Länge des Arbeitslosengeldes I. Schulz warf er in der „Welt am Sonntag“ vor: „Heute redet der SPD-Kanzlerkandidat das Land schlecht, so wie man es sonst von (den Linkspolitikern) Frau Wagenknecht und Herrn Lafontaine gewohnt ist.“ Der Vize-Chef der CSU-Landesgruppe, Hans Michelbach, nannte die SPD-Pläne völlig realitätsfern.
Grüne sehen Hartz IV-Empfänger benachteiligt
Heftige Kritik äußerte auch der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter. „Deutschland braucht in seiner Arbeitsmarktsituation eine Arbeitsmarktpolitik, die auf zukünftige Herausforderungen vorbereitet, anstatt Debatten der vergangenen Jahrzehnte wiederauferstehen zu lassen.“ Statt Rechtsansprüchen auf staatliche Leistungen brauche es faire Rahmenbedingungen für die betriebliche Fort- und Weiterbildung. Dagegen sprach DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach von einem „richtigen Ansatz, den Schutz der Arbeitslosenversicherung zu verbessern.“
„Es reicht nicht, das Arbeitslosengeld I zu verlängern“, bemängelte dagegen Linken-Parteichefin Katja Kipping. Sie forderte gegenüber den Zeitungen der Funke Mediengruppe eine „Gerechtigkeitswende“ weg von der Agenda-Reform. Von den Grünen kam neben Kritik auch Lob. „Es ist gut, dass Schulz auf die kritischen Stimmen gehört hat und die Verlängerung des Arbeitslosengeld-I-Bezugs an Qualifizierung koppeln will“, sagte deren arbeitsmarktpolitische Sprecherin Brigitte Pothmer. Das große Manko von Schulz' Konzept sei aber, dass Bezieher von Arbeitslosengeld II davon nichts hätten. „Damit fallen fast zwei Drittel aller Arbeitslosen hinten herunter“, beklagte sie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was