„Marsch der Millionen“ in der Ukraine: Der lange Atem des Widerstands

Erneut haben Hunderttausende gegen die ukrainische Regierung protestiert. In Kiew fiel ein Lenin-Denkmal. Zwei Szenarien sind nun denkbar.

Runter und rauf: Erst stürzten Demonstranten das Lenin-Denkmal, dann zertrümmerten sie es mit Hämmern. Bild: ap

KIEW taz | Die Ukrainer geben nicht klein bei: Auch am Sonntag gingen in der Hauptstadt Kiew wieder Hunderttausende gegen die Regierung auf die Straße. Der Massenprotest fand auf dem Unabhängigkeitsplatz von Kiew statt, auf den bis zum frühen Abend immer mehr Menschen drängten.

Dabei stürzten aufgebrachte Demonstranten eine 3,50 Meter hohe Statue des sowjetischen Revolutionsführers Wladimir Lenin, wie auf diesem Video zu sehen ist. Die maskierten Täter hätten die Flagge der nationalistischen Freiheitspartei (Swoboda) geschwenkt und Leuchtgeschosse abgefeuert, sagte ein Polizeisprecher.

Aufgerufen zum „Marsch der Millionen“ hatte der Boxweltmeister und Chef der größten Oppositionspartei Udar (dt.: „Schlag“), Vitali Klitschko. Er forderte erneut den Rücktritt von Präsident Wiktor Janukowitsch. „Wir werden kämpfen und wir sind zuversichtlich, dass wir gewinnen werden“, sagte Klitschko. Was geht in einem Land vor, wenn sich auf dem zentralen Platz der Hauptstadt zum wiederholte Mal Hunderttausende Menschen versammeln?

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will den ukrainischen Oppositionsführer Klitschko durch gemeinsame Auftritte stärken. Klitschko solle beim kommenden Treffen der Staats- und Regierungschefs der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) in Brüssel Mitte Dezember in der Runde auftreten und auch ein Gespräch mit Kanzlerin Merkel bekommen, schrieb der Spiegel.

Demnach erhält die Klitschko-Partei Udar derzeit Unterstützung von der EVP und der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Zuletzt hätten sich Merkels außenpolitischer Berater Christoph Heusgen, Kanzleramtsminister Ronald Pofalla und Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) zu Gesprächen mit Klitschko getroffen und ihm Unterstützung zugesagt.

Schon seit über zwei Wochen finden in allen größeren Städten der Ukraine Protestaktionen statt. Auslöser war die Ankündigung von Regierungschef Mykola Asarow, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union auf Eis zu legen. Plötzlich schien all das zunichte gemacht, worauf große Teile der Bevölkerung seit Jahren gewartet hatten. Denn ein Handelsabkommen ist ein wichtiger Schritt hin zu engeren Beziehungen zur EU. Die Menschen könnten sich nicht nur mit qualitativ besseren Waren versorgen, da sich die Produktion EU-Standards annähern müsste. Zudem hätten sie auch leichter und billiger Zugang zu europäischen Produkten.

Auch in der Nacht zum 30. November waren in Kiew viele Ukrainer auf die Straße gegangen. Doch diese Nacht markierte einen Bruch, und dieser Bruch hat die größten Proteste dieses Jahres überhaupt erst ausgelöst. Denn damals räumten Spezialeinheiten der Polizei das Gelände in der Nähe des Präsidentenpalais mit brutaler Gewalt. Im Internet ist zu sehen, wie Polizisten unbewaffnete Demonstranten zusammenschlagen.

Neun Personen, die so massiv verprügelt worden waren, dass sie sich nicht mehr bewegen konnten, wurden festgenommen und wegen „der Organisation von Massenaufruhr“ in Untersuchungshaft genommen. Einer von ihnen ist Valeri Garaguz, Journalist bei der Zeitung Liza (Gesicht) in Dnipropetrowsk, der eine schwere Gehirnerschütterung erlitt. Die Polizisten fielen genau in dem Moment über ihn her, als er versuchte, einem Verletzten zu Hilfe zu kommen.

Passanten zusammengeschlagen

Garaguz’ Anwalt Alexander Miroschnik sagte, dass sein Mandat von der Polizei gefoltert worden sei. Die Generalstaatsanwaltschaft erklärte dagegen, die Demonstranten, Mitglieder einer organisierten Gruppe, hätten die Ordnungskräfte angegriffen. Doch auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie diese Spezialeinheiten einzelne, zufällig vorbeigehende Menschen zusammenschlagen. Polizisten drücken den Menschen ihren Fuß in den Nacken und lassen sich so mit ihnen fotografieren – wie Jäger mit ihrer Beute.

Die danach erwünsche Friedhofsruhe fand nicht statt. Slogans wie „Die Ukraine wählt eine europäische Zukunft!“ wurden um Forderungen ergänzt, die Regierung müsse für die Gewalt zur Verantwortung gezogen werden und zurücktreten. Währenddessen gab die Regierung an die von ihr kontrollierten Medien Direktiven weiter, wie sie über die Ereignisse auf dem Unabhängigkeitsplatz zu berichten habe. Nun hieß es, der Platz habe geräumt werden müssen, weil die Demonstranten die Stadt verunreinigen würden. Auch schädige der Protest die Wirtschaft.

An dieser Stelle sei an die Orange Revolution von 2004 erinnert. Die veränderte zwar die Staatsführung, nicht aber das System. Wenn das, was jetzt in Kiew passiert, einen Sinn haben soll, dann müssen neue Spielregeln her, sagen viele Demonstranten. Ihnen erscheint es nicht ausreichend, einen schlechten Präsidenten durch einen vermeintlich besseren zu ersetzen. Verändert werden müssten vielmehr die Regeln, nach denen Politik und Verwaltung funktionieren. Dazu gehören ein entschlossener Kampf gegen Korruption und ein Mentalitätswandel bei den Beamten, die bislang nichts dabei finden, sich schamlos selbst zu bereichern.

Zwei Szenarien für die Zukunft

Tausende Ukrainer sind in den letzten Jahren nach Europa emigriert. Viele leben und arbeiten bereits in Polen, Spanien, Italien oder Deutschland. Sie tun das nicht nur, weil sie dort mehr Geld als zu Hause verdienen können. Es geht ihnen auch um die Art und Weise, wie man sein Geld verdient. Einen Großteil seines Gehalts bekommt etwa ein ukrainische Arzt nur noch unter der Hand.

Es ist schwer vorauszusagen, wie sich die Dinge in Kiew entwickeln werden. Doch immer wieder werden zwei Szenarien genannt. Angesichts der Schwäche der Opposition scheint es möglich, dass der Protest nach einiger Zeit verebbt, wenn die Regierung gewisse Versprechungen abgibt. Viele Oppositionelle befürchten, dass Staatspräsident Wiktor Janukowitsch die Ukraine danach zu einem zweiten Weißrussland machen wird, einem Polizeistaat mit einem autoritären Regime.

Wenn die Staatsmacht dagegen vorgezogen Wahlen zustimmen sollte, dann könnten die Keime der Zivilgesellschaft, die sich in diesen Tagen auf dem Unabhängigkeitsplatz von Kiew entwickeln, die Ukraine tatsächlich zum Positiven verändern.

(Aus dem Russischen von Barbara Oertel)

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