Marian Offman über Antisemitismus: „Ich stehe auf ihren Todeslisten“

Deutsch zu sein und zugleich jüdisch, kann das gutgehen? Das fragt sich Marian Offman, früherer jüdischer Stadtrat in München, in seinem ersten Roman.

Marian Offman im Porträt

Der Autor und Politiker Marian Offman Foto: Matthias Balk/dpa/picture alliance

taz: Herr Offman, wie lebt es sich als Jude fast 80 Jahre nach dem Holocaust in der Stadt, die sich mal rühmte, die „Hauptstadt der Bewegung“ zu sein?

Marian Offman: Ambivalent. Solange das Gegenüber, mit dem man es zu tun hat, nicht weiß, dass man jüdisch ist, scheint alles ganz normal. Aber es ist nicht normal. Sobald klar ist, dass ich Jude bin, fühle ich geradezu, wenn ich jemandem gegenüber sitze oder stehe, dass diese Person nur noch den Juden in mir sieht – zunächst mal ganz wertfrei, das kann positiv oder auch negativ sein; aber ich bin auf mein Judentum reduziert. Daran hat sich nichts geändert.

Sehen Sie sich persönlich oft mit antisemitischen Anfeindungen konfrontiert?

Da muss man unterscheiden: Seit ich mich vor 20 Jahren entschieden habe, in die Politik zu gehen und meine jüdische Herkunft offensiv zu thematisieren, bin ich natürlich eine der liebsten Zielscheiben der Rechtsradikalen. Ich stehe sogar auf ihren Todeslisten. In meinem beruflichen Umfeld ist es ganz anders. Ich bin ja Hausverwalter und mache fast jeden zweiten Tag eine Eigentümerversammlung. Die Leute wissen da alle, dass ich jüdisch bin, angegangen wurde ich aber fast nie.

Fast?

Marian Offman, Münchner, Jahrgang 1948, war über 30 Jahre im Vorstand der jüdischen Gemeinde und von 2002 bis 2019 im Stadtrat seiner Heimatstadt. Der Sozialpolitiker engagierte sich im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus und setzte sich für Flüchtlinge ein. Er ist der erste interreligiöse Beauftragte der Stadt München. Sein Roman „Mandelbaum“ erschien in diesem Jahr im Volk-Verlag.

Es gibt einzelne Ausnahmen: Wir haben eine Eigentümerin, die regelmäßig gegen die eigene Eigentümergemeinschaft klagt. Die hat bei einem Gerichtstermin gesagt, dass für sie Juden und Rechtsanwälte keine Menschenrechte hätten. Das hat sie auch mehrfach wiederholt. Und die Richterin stand dabei, ohne sich dazu zu äußern.

Wie kommt es, dass der Antisemitismus noch heute so stark ist?

Es gibt ja diese Studien zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Da wird der Anteil der Antisemiten in Deutschland immer so mit 15 bis 20 Prozent angegeben. Die typische Frage ist in den Befragungen: Würden Sie neben einer jüdischen Familie wohnen wollen? Und da sagen eben 15 bis 20 Prozent: lieber nicht. Da gibt es kaum Veränderungen. Bei Muslimen ist die Zahl übrigens viel höher, so bei 50 Prozent. Und neben einer Familie von Sinti oder Roma würden 70 Prozent nicht wohnen wollen.

Aber woher kommt es, dass 80 Jahre nach dem Holocaust immer noch Leute so denken?

Dazu gibt es Hunderte von Büchern. Wirklich schlüssig hat es mir trotzdem noch niemand erklären können. Die Deutschen leiden meiner Meinung nach noch immer an einer kollektiven Psychose wegen des Holocausts: Die Diskrepanz zwischen den eigenen Werten, die man in einer christlich geprägten Gesellschaft vermittelt bekommen hat, und den Verbrechen, die das eigene Volk begangen hat, ist einfach zu groß. Die meisten Menschen können damit irgendwie umgehen, aber manche kommen damit nicht klar. Aber eine Erklärung ist das natürlich auch nicht.

Sie waren fast 20 Jahre lang Stadtrat in München, bei den Wahlen 2020 haben Sie es nicht mehr in das Gremium geschafft. Jetzt ist Ihr Roman „Mandelbaum“ erschienen. Haben Sie vor lauter Langeweile mit dem Schreiben begonnen?

Nein, langweilig war mir nicht. Aber ich hatte schon etwas mehr Zeit, bin auch beruflich etwas kürzer getreten, und eigentlich wollte ich schon immer ein Buch schreiben. Und nun hatte ich plötzlich die innere Ruhe dazu. Deshalb habe ich mich hingesetzt und angefangen zu schreiben. Und es lief sehr gut. Für mich ist das Schreiben ein wirklich beglückender Moment. Ich war selbst erstaunt, wie gut das funktioniert hat. Nach einem Vierteljahr war das Buch fertig.

Eingebettet in eine Rahmenhandlung, in der Ihr Alter Ego eine Nacht in einer Polizeizelle verbringen muss, weil er einen prominenten Neonazi ins Koma geschlagen haben soll, findet sich in Ihrem Buch eine Mischung zwischen Entwicklungsroman und Autobiografie.

Ja, der Felix Mandelbaum ist ein jüdischer Stadtrat, den sein Mut ins Gefängnis bringt. Das Buch ist zur Hälfte wahr, zur Hälfte Fiktion.

Haben Sie selbst schon mal eine Nacht auf der Polizei verbracht?

Nein, aber die Vorgeschichte der Festnahme des Felix Mandelbaum ist auch mir so passiert. Da war ich als Gegendemonstrant bei einer rechten Demo am Odeonsplatz, und plötzlich war ich umringt von lauter Polizeibeamten, die mir gesagt haben, es habe jemand gegen mich Strafanzeige wegen schwerer Körperverletzung gestellt und ich müsste jetzt mitkommen. Dann haben sie mich in eine Seitenstraße abgeführt und dort in einem Polizeibus verhört.

Was hatten Sie denn gemacht?

Ich hatte den Arm einen Pegida-Aktivisten weggeschoben, der mit einem Flugblatt vor meiner Nase rumgefuchtelt hat, und ihm gesagt, er solle verschwinden. Die Polizisten standen übrigens daneben.

In Ihrem Roman kommt die Münchner Polizei auch sonst nicht sehr gut weg, da sieht man Beamte, die im Zweifel eher Neonazis beschützen, als gegen Antisemitismus einzuschreiten.

Es gab auch Situationen, in denen ich mich von der Polizei beschützt gefühlt habe. Öfter aber waren Momente wie die bei der Eröffnung des NS-Dokumentationszentrums. Da hatten sich 200 Meter weiter Nazis aufgestellt, die sehr laut die erste Strophe des Deutschlandslieds abspielten. „Deutschland über alles“ – während die Holocaust-Überlebenden zur Eröffnungsfeier kamen. Als ich einen Polizeibeamten darauf aufmerksam machte und ihn bat, dagegen einzuschreiten, schickte er mich nur weg und meinte, das gehe mich überhaupt nichts an. In solchen Fällen ist mein Vertrauen in die Polizei dann doch erschüttert.

Sie hätten eine richtige Autobiografie schreiben können, auch einen sehr fiktiven Roman mit autobiografischen Anleihen, warum haben Sie sich für dieses etwas schillernde Mischform entschieden?

Das hat sich so ergeben. Ich bin die Sache ganz ohne Konzept angegangen. Ich habe mich hingesetzt und angefangen zu schreiben. Die Rahmenhandlung hatte ich mir schon früher mal während einer langweiligen Stadtratssitzung überlegt. Der Rest hat sich so entwickelt. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum. Wenn man 74 Jahre alt ist, hat man so viel erlebt, gesehen, gefühlt, geweint und gelacht. Und das kommt dann beim Schreiben halt irgendwie raus.

Im Klappentext heißt es, der Roman gehe „der Frage nach, ob eine deutsch-jüdische Existenz überhaupt gelingen kann“. Und?

Es ist schwierig. An manchen Tagen denke ich mir, ich habe wirklich innerhalb meiner bescheidenen Möglichkeiten alles getan für ein gutes Miteinander miteinander zwischen Juden und Christen, zwischen Juden und Muslimen, aber es hat sich nichts verändert. Da erinnere ich mich dann an den Satz, den Ignatz Bubis, der frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, kurz vor seinem Tod gesagt hat: „Ich habe nichts erreicht.“ Und dann wieder gibt es Tage, an denen alles vergessen ist, ich gehe auf die Straße, spaziere durch mein München und denke mir: Alles ist gut.

München ist die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland. Aber man hat den Eindruck, dass ein Großteil des jüdischen Lebens in München hinter verschlossenen Türen stattfindet.

Viele haben Angst. Und mich halten manche für verrückt. Wie kann ein Jude zu einer Nazidemo gehen und sich offen gegen die Nazis stellen? Sie fragen sich: Wieso soll ich den Kopf hinhalten?

In der Beschreibung der Schulzeit des Felix Mandelbaum erzählen Sie, wie er aus einem Referat eines Mitschüler vom Horror des Holocausts erfährt, nicht von seinen Eltern.

Es wurde in den meisten jüdischen Familien nicht über den Holocaust gesprochen. Nicht nur weil die Eltern nicht über ihre traumatischen Erfahrungen sprechen wollten, sondern auch aus einer jüdischen Tradition heraus: Kinder sollen sich nicht mit dem Tod befassen müssen, man will sie mit dieser dunklen Seite des Lebens nicht konfrontieren. Deshalb werden Sie auf einem jüdischen Friedhof auch keine Kinder finden.

Sie sind 2002 für die CSU in den Stadtrat eingezogen. In Ihrem letzten Jahr, 2019, sind Sie in die SPD gewechselt und haben inzwischen auch durchblicken lassen, sich anfangs aus opportunistischen Gründen für die CSU entschieden zu haben – nicht zuletzt, weil die Israelitische Kultusgemeinde die Beziehungen zu dieser Partei verbessern wollte. Wie hält man das aus: 17 Jahre in der falschen Partei?

Weil man Freunde in dieser Partei hat. Und weil man Ziele vor Augen hat, für die man sich einsetzt – der Bau des jüdischen Gemeindezentrums, des NS-Dokumentationszentrums. Und die CSU ließ mich ja gewähren. Ich musste mich nie verbiegen, habe nie eine Politik gemacht, die gegen meine innere Überzeugung gewesen wäre.

Und wie ist das Leben als Schriftsteller so? Kann man sich daran gewöhnen?

Durchaus. Ich habe bereits das nächste Buch in der Schublade. Gestern habe ich die letzte Seite geschrieben. Diesmal ist es allerdings etwas völlig anderes, eine Art Roadstory in Folge des Judenpogroms 1285 in München.

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