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Psychiater über Otrovertierte„Manche Leute gehen mit einem Alien-Gefühl durchs Leben“

Oft ist in der Psychologie von Introvertierten und Extrovertierten die Rede. Psychiater Rami Kaminski will einen dritten Typus identifiziert haben.

Otrovertierte bemerken früher als andere, wenn gesellschaftlich etwas ins Wanken gerät Foto: Ute Mahler/Ostkreuz
Katja Kullmann

Interview von

Katja Kullmann

taz: Herr Kaminski, das Prinzip „Wir gegen die“ greift weltweit um sich. Ob in der sogenannten Identitätspolitik oder im Nationalismus: Das Denken in Freund-Feind-Gruppen nimmt zu. Glücklicherweise gibt es Menschen, die weitgehend immun dagegen sind, sagen Sie, und haben jenen Leute nun ein Buch gewidmet.

Rami Kaminski: Man könnte diese Leute als freiwillige Außenseiter bezeichnen: Sie hegen eine tiefe Skepsis gegen Gruppenbildungen jeglicher Art und halten sich davon fern. Es ist ein Phänomen, das ich in meiner Praxis seit Jahrzehnten beobachte: das Fehlen eines Gemeinschaftssinns. Die Unfähigkeit, sich irgendeiner Gruppe zugehörig zu fühlen, sei es einer Freizeitclique, dem Bürokollegium oder, in großem Maßstab, einer Nation. Dieses Merkmal findet sich in allen Altersklassen, Geschlechtern und Ethnizitäten, egal ob arm oder reich. Die Betroffenen kommen sich in Gruppen stets wie Beobachter oder Besucher vor. Manche sagen auch, sie gehen mit einem Alien-Gefühl durchs Leben, immer mit dem Eindruck, nicht richtig dazuzugehören. Und eigentlich auch gar nicht dazugehören zu wollen.

Bild: privat
Im Interview: Dr. Rami Kaminski

arbeitet seit über 40 Jahren als Psychiater und war unter anderem als Chefpsychiater des US-Bundesstaates New York tätig. Sein Buch „Wie schön es ist, nicht dazugehören zu müssen. Weder Intro noch Extro: Die besondere Gabe der Otrovertierten“ ist 2025 im Kailash Verlag erschienen.

taz: Sie sprechen von den „Otrovertierten“.

Kaminski: „Otro“ wie „other“ – „anders“. Bislang kennen wir den Introvertierten und den Extrovertierten, Begriffe des Psychiaters Carl Gustav Jung. Die introvertierte Person richtet ihren Blick überwiegend nach innen, mal um sich vor der Außenwelt zu schützen, mal um sich selbst zu überprüfen: Mache ich alles richtig in meiner Umgebung? Die extrovertierte Person hingegen blüht im Außen erst so richtig auf, braucht die anderen, ein Publikum, um sich selbst zu spüren. Beide sind also stark auf ihre Gruppenumgebung bezogen. Die otrovertierte Persönlichkeit aber schaut weder nach innen noch nach außen, sondern in eine andere Richtung – weit über das Gruppengetriebe hinaus. Das macht den Otrovertierten zu einem äußerst wertvollen Zeitgenossen, gerade in Zeiten wie diesen. Er kann der Kanarienvogel im Bergwerksstollen sein.

taz: Sie meinen: Der otrovertierte Mensch kann andere vor einer Katastrophe warnen?

Kaminski: Vor hasserfüllter Massenhysterie, vor Menschenfeindlichkeit, religiösem Fanatismus, faschistischen Tendenzen – ja.

taz: Erklären Sie das bitte.

Kaminski: Die gruppenbezogene Persönlichkeit ist empfänglicher für das Fantasma des nationalistischen Patriotismus – weil sie über weniger innere Freiheit verfügt. Sie macht meist kaum einen Unterschied zwischen der sie umgebenden äußeren und ihrer inneren Welt, bezieht vieles unmittelbarer auf sich selbst, fühlt sich eher belästigt oder persönlich angegriffen, regt sich schneller auf, achtet ständig auf die anderen, die „eigenen“ und die „fremden“ Leute. Eine solch gruppenbezogene Weltsicht hat den Effekt, dass man sich letztlich wohl niemals wirklich unbeobachtet fühlt. Das begünstigt Unzufriedenheit, Selbstbefangenheit und Aggressionen gegen andere. Es ist eine Art von Tribalismus – ein sehr viel engeres Lebensgefühl als bei einem Otrovertierten, dem Gruppenregeln tief in seinem Innern schnuppe sind.

taz: Können Sie das mit dem Tribalismus noch etwas konkreter erläutern?

Kaminski: „Auf welcher Seite stehst du?“: Das wäre eine typische Frage eines Tribalisten. Die Tribalisten sind eine Untergruppe der gruppenorientierten Persönlichkeiten, hochaggressiv und derzeit sehr laut. „Bist du ein richtiger Amerikaner?“, heißt es etwa bei uns in den USA jetzt ständig. Aber: Wer bestimmt, was ein richtiger Amerikaner ist? Die angebliche Mehrheit? Ein autoritärer Herrscher? Ein otrovertierter Mensch ist für solche Verallgemeinerungen oder Gruppenhysterien kaum anfällig. Er braucht die Bestätigung durch andere nicht so sehr, deshalb ist sein Blick auf Gruppendynamiken klarer, schärfer, kühler.

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taz: Ursprünglich kommen wir ohnehin alle als Otrovertierte zur Welt, schreiben Sie.

Kaminski: Richtig. Kein Baby kann sich aussuchen, in welche Familie, welche Einkommensklasse, welche Glaubenswelt es geboren wird. All diese Zuordnungen interessieren es auch nicht! Kein Baby hasst irgendwen. Das wird ihm erst nach und nach beigebracht, im Namen der Kultur, der Religion, der Nation, von wem auch immer. Der erwachsene Otrovertierte hat sich eine Spur dieser frühkindlichen Wachheit erhalten. Jede Gruppe, sei es die Familie, ein Sportclub, eine Partei, unterliegt ja einer geteilten Dynamik: Einerseits geht es um Zugehörigkeit, andererseits um Ausschluss. Diese Dynamik von Anbindung und Abgrenzung beruht meist auf willkürlichen oder rein symbolischen Kriterien, das ist also nie etwas Natürliches, immer etwas Menschengemaches – so nimmt es ein otrovertierter Mensch instinktiv wahr.

taz: Und deshalb will er oder sie sich den Regeln der Gruppe nicht fügen?

Kaminski: Das Gruppengetue gibt der otrovertierten Person nichts. Sie kann weder daran glauben noch sich damit identifizieren, zweifelt die Sinnhaftigkeit von Gruppenregeln an, findet sie ärgerlich oder lächerlich. Dabei sind Otrovertierte durchaus gern mit anderen zusammen. Nur eben nicht rund um die Uhr. Und tendenziell lieber zu zweit als zu zwölft. Es geht ihnen im Zusammensein mit anderen eher um Qualität als um Quantität.

taz: Ein Alltagsbeispiel?

Kaminski: Nehmen wir einen beruflichen Empfang oder eine Hochzeitsfeier: Otrovertierte fühlen sich dort unwohl, sie können mit Small Talk nichts anfangen. Meist bilden sich bei solchen Anlässen Untergrüppchen, hier stehen Leute aus Abteilung X, dort die aus der Clique Y – für einen Otrovertierten ist das anstrengend, er kann sich nicht entscheiden, wem er sich anschließen soll, und findet das stressig. Aber: Er oder sie kann stundenlang auf demselben Partysofa sitzen, in ein intensives Gespräch mit einer Einzelperson vertieft. Ob es um Kunst, Kochen oder Politik geht: Der otrovertierte Mensch ist in der Lage, sich voll und ganz auf ein Thema einzulassen und damit auch auf sein individuelles Gegenüber. „Mit dir kann man sich unheimlich gut unterhalten“: Dieses Kompliment bekommt ein Otrovertierter oft zu hören. Und daraus ergibt sich auch seine hoch entwickelte Toleranz- und Empathiefähigkeit.

taz: Toleranz und Empathie? Inwiefern?

Kaminski: Nun, wenn man anderen von einem persönlichen Problem erzählt, erhält man oft Ratschläge wie: „Ach, so ähnlich war es bei mir auch mal.“ Oder: „Ich an deiner Stelle würde einfach dieses oder jenes tun.“ Eine otrovertierte Person würde so nicht reden. Er verfügt über die Fähigkeit, seine eigene Perspektive von der des anderen zu unterscheiden.

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taz: Das bedeutet?

Kaminski: Statt von sich selbst zu erzählen, würde ein otrovertierter Mensch eher sagen: „Erzähl mir mehr von deinem Problem, wann genau fing das an?“ Otrovertierte bewerten andere nicht so schnell, schon gar nicht nach irgendwelchen angeblich allgemeingültigen Rastern. Sie haben auch selten das Gefühl, etwas zu verpassen, nur weil sie nicht an dieser oder jener Kollektivveranstaltung teilnehmen. Das ist eine große Stärke: Wenn man ohne Wettbewerbsgedanken durchs Leben gehen kann. Was angeblich gerade „in“ ist und was „passé“, worüber „man“ spricht und worüber nicht, Statussymbole, „Follower“-Zahlen und andere Ranking-Methoden: Das alles lässt otrovertierte Menschen weitgehend kalt.

taz: Nicht jeder Otrovertierte wird aber zum stolzen Rebellen, viele entwickeln Anpassungsstrategien, wie Sie schreiben.

Kaminski: Das stimmt. In meine Praxis kam eine Mutter, die sich um ihren 15-jährigen Sohn sorgte: Er werde oft eingeladen, nehme aber so gut wie nie an Sportveranstaltungen oder Teenie-Streichen teil. Als der Junge vor mir saß, zeigte sich: Er war sich der Erwartungen seiner Eltern und seiner Mitschüler voll bewusst. Otrovertierte sind gern allein. „Mir ist nie langweilig, ich brauche den Rummel nicht“: Solche Dinge hörte ich auch von dem Jungen. Da er die anderen nicht brüskieren wollte und auch nicht wollte, dass man ihn für „unnormal“ hielt, nahm er gelegentlich doch an Gruppenveranstaltungen teil und tat so, als ob es ihm Spaß machte.Ich nenne diese Taktik „Pseudo-Extrovertiertheit“: Viele Otrovertierte spielen bis zu einem gewissen Grad mit, geben vor, engagiert dabei zu sein, und machen sich dadurch zwar beliebt, leiden aber manchmal ganz schön darunter.

taz: Sie betreiben soziale Schauspielerei – kann man das so sagen?

Kaminski: Innerlich sind sie Außenseiter, äußerlich benehmen sie sich aber oft wie Insider. Gerade weil sie die sozialen Spielregeln so analytisch betrachten, können sie sich ihnen scheinbar mühelos anpassen. Doch die Scharade kostet eine Menge Energie, vor allem in der Pubertät. Ab etwa 25 Jahren, wenn mehr Selbstbestimmung möglich ist, wird es für die meisten Otrovertierten besser.

Wobei es wohl auch im Job schwierig sein kann: Sogenannte Teambuildingmaßnahmen wie „Bowling für die ganze Abteilung“ sind in vielen Firmen heute Pflicht.

Kaminski: Oh ja, eine Hölle für den Otrovertierten, Gruppen-Feeling auf Kommando: eine Qual! Auch der Sinn von „Meetings“ erschließt sich ihm nicht immer. Deutlicher gesagt: Nein, der Otrovertierte ist nicht unbedingt ein guter Teamplayer – eher ein begnadeter Solist als ein Orchestermusiker.

taz: Und wie sieht es in der Liebe aus?

Kaminski: Die otrovertierte Persönlichkeit ist zu tiefen, verlässlichen Bindungen fähig, verspürt aber nicht den Drang, mit dem anderen zu verschmelzen, möchte ihn nicht verändern, gönnt ihm viel Raum und Zeit und wünscht sich dieselben Freiräume auch umgekehrt. Das Problem: Mitunter fühlt sich die andere Seite deshalb „nicht richtig geliebt“. Bei heterosexuellen Paaren kommt hinzu, dass er und sie oft glauben, eine bestimmte Gruppe, ihr jeweiliges Geschlecht, repräsentieren zu müssen, nach dem Motto: Dies und das ist „typisches Männerverhalten“, dieses und jenes ist „typisch Frau“ – alles alberne und lästige Verhaltensregeln, aus Sicht der otrovertierten Person. Sie kann und will gewisse romantische Paarerwartungen also nur schwer oder gar nicht erfüllen. Auch deshalb sind viele über längere Phasen – und nicht ungern – Single.

taz: Woran liegt es, dass manche Menschen so sind und andere nicht? Die Otrovertiertheit kann man nicht erlernen, schreiben Sie.

Kaminski: Genau. Und man muss sie auch nicht „kurieren“. Es handelt es sich nicht um eine psychische Störung, sondern um ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal. Man hat es oder man hat es nicht, so wie manche Linkshänder sind und andere nicht. Seit vier Jahrzehnten in der Praxis denke ich nun schon über diese Fragen nach: Warum leben manche Menschen mit diesem distanzierten Verhältnis zu ihrer Gruppenumgebung? Und warum empfinden gerade diese Menschen ihr Leben als besonders reich und erfüllend? Die Forschung steht da im Moment noch ganz am Anfang.

taz: Was schwebt Ihnen im Weiteren vor?

Kaminski: Mit ein paar Kollegen habe ich das Otherness Institute gegründet, eine Plattform, auf der wir Material zum Thema sammeln und an die Menschen sich wenden können, die sich von dem Konzept angesprochen fühlen. Mittlerweile haben sich mehr 26.000 Menschen bei uns gemeldet. Das ist in keiner Weise repräsentativ, aber immerhin verfügen wir über eine erste kleine Datenbasis, die wir nun systematischer auswerten wollen. So viel zeichnet sich schon ab: Es gibt wohl doch mehr Otrovertierte da draußen, als ich ursprünglich angenommen hatte. Und das halte ich, wie gesagt, für eine gute Nachricht – wir können sie gerade wirklich gut gebrauchen.

taz: Als Kanarienvögel mit antifaschistischer Warnfunktion …

Kaminski: Sagen wir so: Otrovertierte Menschen nehmen sehr fein wahr, wann eine Gesellschaft – die ja nichts anderes als eine besonders große Gruppe ist – einen fanatischen Spasmus erlebt. Es kann nicht schaden, ihnen gerade jetzt aufmerksam zuzuhören.

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