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Weltkulturgeschichte in BremenEntscheidungsort der Psychoanalyse

In Bremen wird die Entzweiung von C. G. Jung und Sigmund Freud greifbar. Jung ist von mumifizierten Leichen begeistert, Freud nicht.

Gerieten über mumifizierte Leichen in Streit: Freud und Jung Foto: Ingo Wagner/picture alliance

Selten sind weltkulturhistorische Ereignisse, die in Bremen spielen. Streng genommen gibt es nur ein einziges: den gemeinsamen Besuch Sigmund Freuds und Carl Gustav Jungs 1909 im Bremer Bleikeller. Es gibt zwar kein Foto, aber eine Installation des Künstlerduos Korpys/Löffler, die, mittlerweile der Sammlung der Bremer Kunsthalle einverleibt, diesen entscheidenden Moment der Geistesgeschichte gestalterisch aufgreift.

Er markiert nämlich den Beginn der Entzweiung beider voneinander. Von dieser Urszene aus werden sie schon während der gemeinsamen Überfahrt zur Gastvortragsreihe in den USA gedanklich getrennte Wege gehen. Sie werden ihre jeweiligen, das 20. Jahrhundert prägenden Schulen in Konkurrenz zueinander entwickeln: die erkenntnistheoretische Methode der Psychoanalyse und die Lehre von der Analytischen Psychologie, die mit ihren Archetypen und dem Kollektivunbewussten bald die Nähe zum Raunen vom Volksgeist sucht.

Spaßeshalber könnte man aus ihrem Repertoire auch billige Erklärungsmuster beispielsweise dafür entwickeln, warum in Bremen seit Einführung der Demokratie stets die SPD herrscht, die natürlich allesamt Quatsch wären. Oder mutmaßen, warum Die Linke hier ihre Plakatfarbe zwar nicht Psychot, wohl aber Neurot nennt.

Schon die Frage aber, wer sich hier von wem löst, ist heikel: Wäre es Freud, der sich von dem damals wegen seiner assoziationsmethodischen Erfolge international stark beachteten Jung abwendet oder umgekehrt? Lässt sich die Szene als Vatermord deuten, oder letztlich als Autoaggression? Eine klärende neutrale Instanz hätte Sandor Ferenczi sein können, der bei der Geschichte in Bremen auch dabei war. Bloß scheint er dem Vorgang, anders als die Kontrahenten, keine Bedeutung beigemessen zu haben. Ganz anders als Freud und Jung.

Best of Bremen

Bremen stört nicht weiter – trotz seines schlechten Rufs. Eine Statistik, die Bremen als Schlusslicht ausweist, ist schnell gefunden. Irgendein Bildungsmonitor, ein Armutsranking, eine Kriminalitätsstatistik. Und auch noch das: Vier Jahre lang ist Bremen von einem rot-grün-roten Senat regiert worden. Die Aufregung um das bisschen Kommunismus im traditionell SPD-roten Bremen war schnell verklungen, als klar war, dass dieses in einem rein westdeutschen Bundesland einmalige Experiment ganz passabel funktioniert hat. Es taugt zum Hingucker.

So wie die ganze Stadt.

Zur Neuwahl der Bremer Bürgerschaft am 14. Mai schaut die taz daher in einem Dossier genau hin. Was macht das Lebensgefühl aus? Wieso ist Bremen die Raucherhauptstadt? Warum nochmal ist Bremerhaven wichtig? Und was macht Werder?

Alle Texte des Dossiers werden unter dem Link taz.de/bestofbremen gesammelt.

Streit über Leichen

Es ist so, dass es in der Ostkrypta des Bremer Doms, die alle nur Bleikeller nennen, Mumien gibt, beziehungsweise eine versehentlich mumifizierte Leiche, die um 1700 beim Einbau einer neuen Orgel aufgefunden worden war: durch Eintrocknung „vortrefflich erhalten“, wie Freud in seinem Reisejournal notiert. Die Aussicht auf Konservierung hatte dann im Laufe des 18. Jahrhunderts Menschen mit privilegiertem Zugriff auf die Räumlichkeiten dazu verleitet, dort für sich oder Angehörige eine verwesungsresistente Grablege zu organisieren. Seit dem 19. Jahrhundert können die Kadaver gegen kleines Geld besichtigt werden. Eine Touri­attraktion.

Bremen ist 1909 ein unvermeidlicher Zwischenstopp vor der Atlantiküberquerung mit dem Norddeutschen Lloyd. Jung, ortskundig, gibt den Fremdenführer der Psycho-Dok-Reisegesellschaft und lässt sie auch dieses Schauerangebot wahrnehmen. „Man hat auch Vogelleichen im Raum aufgehängt“, notiert Freud leicht pikiert, um zu zeigen, dass sie „langsam schrumpfen“. Jung hingegen verwechselt vor lauter Begeisterung über den Gang in die Tiefe die Dom-Mumien laut seiner Autobiografie mit Moorleichen.

„Freud erlitt eine Ohnmacht“

Beim Nachgespräch in einer Gaststätte rühmt er deren atemberaubende Frische, worauf Freud ihn erregt angefahren habe, was er denn „mit diesen Leichen“ habe. Freud „ärgerte sich in auffallender Weise und erlitt während eines Gespräches darüber bei Tisch eine Ohnmacht“, so Jung. „Nachher sagte er mir, dass er überzeugt sei, dieses Geschwätz von Leichen bedeute, daß ich ihm den Tod wünsche.“ Er sei von dieser Ansicht „mehr als überrascht“ gewesen, gesteht Jung.

Freud hingegen leitet eine realpolitische Forderung aus der Gruftbesichtigung ab: „Das Ganze bleibt aber doch ein Plaidoyer für die gründliche Vernichtung der überflüssig gewordenen Menschen durch Feuer“, schreibt er seiner Familie. Dass Bremen auf Antrag der Grünen 2014 den 80 Jahre zuvor eingeführten Friedhofszwang abgeschafft hat, als erstes Bundesland, steht damit zwar in keinem Zusammenhang, passt aber trotzdem hierher.

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4 Kommentare

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  • Aus diesen beiden Quellen haben sich dann im Laufe der Zeit die klassische Psychoanalyse (z.B. der französische Zweig, Lacan u. Co) und der eher "höhenpsychologisch" orientierte Ansatz der humanistischen Psychologie entwickelt. Die eine fragt: Wie haben dich Kindheit und Eltern konditioniert, welche Komplexe beschäftigen dich am meisten - die andere fragt: Welche persönlichen Anteile in dir inspirieren dich und dienen deiner Weiterentwicklung (sehr grob und verkürzt gesagt). Eine Kombination beider Ansätze ist natürlich auch möglich. Wenn der Geist großen Schaden erlitten hat, also ein schweres Trauma vorliegt, ist die Frage, welcher Ansatz der bessere ist. Im Alltag sind konstruktive Ansätze wie Entspannungsübungen, Gestalt, Traumarbeit, freies Malen, Schreiben, Singen, Tanzen etc. sehr empfehlenswert.



    Im angelsächsischen Raum dominiert inzwischen der undogmatische Jungsche Ansatz bzw. seine Weiterentwicklung in der transpersonalen Psychologie und Psychosynthese, im deutsch-und französischsprachigen Raum vermutlich noch die klassische Psychoanalyse. In jedem Fall empfiehlt sich das Studium beider Pioniere. Jungs Biografie "Erinnerungen, Träume, Gedanken" ist spannend und ein guter Zugang. Sein einfaches Schema der vier Funktionen (Fühlen, Denken, Intuition, konkrete Wahrnehmung) kann in der Praxis sehr hilfreich sein. Als intuitiver Theoretiker/Denker fühlte sich Jung z.B. bemüßigt, seine Einseitigkeit dadurch zu "erden", indem er sich seine eigene Hütte baute und viel im Garten arbeitete. Freuds Entdeckung des "Unbewussten" und "Es, Ich und Über-Ich" sind genial.



    Sigmund Freuds langer, oft mühevoller Weg, am Ende vertrieben von den Nazis, endet im hohen Alter 1938 im Exil. Spuren dieses couragierten, der Menschlichkeit und dem Bewusstsein verpflichteten Psychologen finden sich z.B. im Londoner Freud-Museum (de.wikipedia.org/w...ud_Museum_(London). Ich war überrascht, was für eine ungeheure Wärme sein Behandlungszimmer ausstrahlte.

  • Die Bücher zur frühen Nähe und späteren Entfremdung dieser beiden Pioniere der Psychologie stapeln sich inzwischen so hoch wie die New Yorker skyline. Eine spannende Kontroverse. Freud ist 1856 geboren, was auch ein Indiz für die Radikalität seiner Ansichten z.B. zur Sexualität im verklemmten Wien der Jahrhundertwende liefert (die ihn wohl zu einer Revision seiner Theorien zur infantilen Sexualität veranlasst hat; er hatte sexuellen Missbrauch klar benannt und Empörung ausgelöst). Jung ist 19 Jahre (jünger), Freud sieht ihn als potentiellen Nachfolger zu Zeiten, wo die Psychoanalyse hoch umstritten war, "woker als woke", würde man heute sagen, und er immer unter Beschuss stand, Jung also seinen Ideen zu Anfang eine gewisse Anerkennung in nichtjüdischen Kreisen verlieh.



    Neben Vater-Sohn Aspekten trennten die beiden die schweizerisch-bürgerliche bzw. galizisch-jüdische Herkunft, und erst recht mit den Jahrzehnten die Methodik. Zu Jungs Verhalten gegenüber dem deutschen Nationalismus in den frühen 30ern und zu seinem Verhältnis zu seinen jüdischen Mitarbeitern und Kolleginnen (Jaffé, Jolande Jacobi, Neumann z.B.) empfehle ich den ausführlichen Wikipedia-Eintrag zum Thema (unter C.G. Jung). Bei Freud fühle ich mich als politisches Individuum viel eher zuhause ("Das Unbehagen in der Kultur") als bei dem gelegentlich reichlich esoterischen Jung. Die analytische Psychologie hat andererseits für den Umgang mit Erwachsenen ein viel breiteres Instrumentarium bereitgestellt hat als Freud, der sehr auf seine Sexualtheorien fixiert war. Zum Zeitpunkt der angegebenen Episode verehrte Jung Freud noch sehr, so dass er von dessen Theorie, er wünsche seinen Tod, sehr berührt war. Andererseits ist das Misstrauen Freuds auf dem Hintergrund der vielen Angriffe gegen ihn, oft antisemitisch motiviert, verständlich; er sorgte sich auch darum, dass der charismatische "Kronprinz" die Reinheit seiner Lehre trüben könnte.

  • haha, beim Lesen des Artikels drängt sich doch der Eindruck auf dass unsere guten Psycho-Docs einen an der Erbse hatten. Die Vorstellung eine gemeinsamen Reise von zwei Psychoanalytikern hat mich doch an diesen Sketch der englischen Komiker Fry and Laurie erinnert ("Psycho Psychiatrists") www.youtube.com/wa...=_f2WFFwBZPc&t=25s

    • @Gerald Müller:

      Gerade geguckt, sehr lustig. 🙏