Managerin über soziale Schichten: „Selbstbewusstsein ist relativ“
In ihrem Buch „Wir von unten“ erzählt Natalya Nepomnyashcha die Geschichte ihres sozialen Aufstiegs und fordert echte Chancengleichheit für alle.
taz: Frau Nepomnyashcha, Sie sind in einem armen Haushalt aufgewachsen und gehören jetzt zu den Top-Verdienenden. Fühlen Sie sich noch unten oder schon oben?
Natalya Nepomnyashcha: Beides. Wenn ich mich hier in meiner Fünfzimmerwohnung mit Garten umschaue, fühle ich mich eher oben. Aber wenn ich an meine Kindheit denke, mit meinen Eltern telefoniere oder sie sehe, fühle ich mich unten. Meine Eltern leben immer noch in dem sozialen Brennpunkt, aus dem ich komme.
Haben Sie den Weg nach oben trotz oder mit Hilfe des deutschen Bildungssystems geschafft?
1989 in Kyjiw geboren. Sie ist Assistant Director bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY und Gründerin des „Netzwerks Chancen“. Das fördert und verbindet soziale Aufsteiger*innen mit erfahrenen Mentor*innen.
Ein bisschen mehr trotz statt mit Hilfe. Es ist super, dass die Schule in Deutschland kostenlos ist. Ich habe eine sehr gute Ausbildung genossen auf der Realschule, auf der ich war. Aber das mehrgliedrige Schulsystem hat mir den Aufstieg enorm erschwert. Wäre ich direkt auf einer Gemeinschaftsschule oder einem Gymnasium gewesen, hätte ich hundertprozentig Abitur gemacht und hätte dann selbstverständlich studiert.
Sie haben stattdessen nach Ihrem Realschulabschluss erst eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin und dann zur Übersetzerin gemacht und konnten an diese ein Studium in Großbritannien anschließen …
Während meiner ersten Ausbildung bekam ich nur 200 Euro Bafög. Hätte ich an einer Hochschule studiert, hätte ich den Höchstsatz bekommen. Es grenzt fast an ein Wunder, dass ich einen Masterabschluss habe.
Jetzt fordern Sie die Abschaffung der mehrgliedrigen Schulausbildung.
Absolut. Es gibt auch Studien, die diese Forderung unterstützen. Die Iglu-Studie hat gezeigt, dass – bei gleichen Fähigkeiten! – Kinder aus nichtakademischen Familien eine zweieinhalbfach geringere Chance auf eine Gymnasialempfehlung haben. Dieses Schulsystem manifestiert soziale Schichten. Es ist ein Skandal, dass sehr viele Kinder und Jugendliche aus unteren sozialen Schichten nie erkennen werden, wo ihre Stärken sind, weil sie nicht entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert, sondern abgestempelt werden.
In Ihrem Buch beschreiben Sie Ihren eigenen Werdegang. Dafür haben Sie auch mit Ihren alten Lehrerinnen gesprochen, Erinnerungen und Einschätzungen abgeglichen. Was hat Sie da am meisten überrascht?
Das Gespräch mit meiner Hauptschullehrerin Frau Mengele hat mich sehr berührt. Auch sie ist gegen das mehrgliedrige Schulsystem, weil es Kindern das Gefühl gibt, Verlierer*innen zu sein. Und sie sagte mir, dass meine Eltern mich einfach für das Gymnasium hätten anmelden können, aber dass sie selbst das nicht gewusst habe damals. Das zeigt die Willkür des Systems. Jahrelang habe ich mich minderwertig gefühlt und dachte, dass ich nicht schlau genug bin, dass ich einfach nicht so viele Fähigkeiten habe wie die Kinder und Jugendlichen auf dem Gymnasium.
Eine Ihrer Thesen lautet, dass Deutschland einem Großteil der Menschen systematisch Karrieremöglichkeiten vorenthält. Wie genau sieht das aus – und wie ließe sich das ändern?
Es beginnt mit der Frage, wer überhaupt einen Hochschulabschluss macht. Ohne Hochschulabschluss kommt man für viele gut bezahlte Jobs gar nicht in Frage, obwohl man die Fähigkeiten dafür hat. Dann zählen oft gar nicht die Noten, sondern wo du deinen Uni-Abschluss gemacht hast, welche Menschen du da kennengelernt hast, welche Praktika du gemacht hast. Viele Praktika sind aber schlecht oder unbezahlt – die muss man sich leisten können. Und dann kommt noch das Thema Habitus dazu. Arbeitgebende denken: Der passt hier irgendwie nicht rein, ist mir unsympathisch. Man sollte Personalfragen nicht nach Sympathie treffen.
Wie soll das gehen?
Ich hatte selbst schon einen Fall, wo mir jemand im Gespräch unsympathisch war und ich dann entschieden habe, dass es weitere Gespräche mit dem Team geben soll. Und wenn das Team gesagt hat, dass sie die Person spannend finden und glauben, dass sie einen guten Job machen wird, dann unterbreite ich ein Angebot. Ich stelle auch allen Bewerbenden immer dieselben Fragen, so kommt man nicht ins Plaudern, Plaudern stärkt den Sympathieimpuls. Diese Reflexion von Führungskräften, wonach sie Entscheidungen treffen, ist sehr wichtig.
Worauf sollten Arbeitgeber noch achten?
Man darf nicht versuchen, jemanden für einen Job zu finden, der wie die Person ist, die den Job vorher gemacht hat. Hintergrund ist die Glasschuh-Theorie: Für Jobs werden immer Leute ausgesucht, die in dieselben Schuhe passen, die schon die Vorgängerin getragen hat. Aber vielleicht sind das für mich einfach die falschen Schuhe, obwohl ich den Tanz, der getanzt wird, eigentlich super kann. Ich werde das nur nie zeigen können mit den falschen Schuhen.
Dieses Nicht-Passen spielt im Berufsalltag dann weiter eine Rolle …
Ja, zum Ankommen braucht es zum Beispiel Hilfestellungen für soziale Aufsteiger*innen. Das geht über ein Mentoring- oder Buddy-Programm oder eine andere Möglichkeit, wirklich ganz banale Fragen stellen zu können. Als ich bei EY angefangen habe, hatte ich so jemanden. Ich konnte die Kollegin fragen, ob es okay ist, hier roten Nagellack zu tragen. Eine absurde Frage, aber ich hatte solchen Respekt vor dem Unternehmen und konnte das nicht einschätzen. Als Aufsteigerin bewegt man sich eben nicht wie ein Fisch im Wasser.
Und man fühlt sich dadurch auch unwohl. Das wird in der Wissenschaft als Confidence Gap bezeichnet.
Genau. Selbstbewusstsein ist relativ, ich habe es nicht immer oder nie, sondern abhängig vom Kontext. Wenn man also in einem Gespräch ist und das Gefühl bekommt, da sind alle anders als man selbst und sie sind einem nicht einmal wohlwollend eingestellt, fühlt man sich unwohl und tritt weniger selbstbewusst auf. Für mein Buch traf ich auch andere soziale Aufsteiger*innen. Einer von ihnen ist Sebastian. Er hat neben einem Vollzeitjob in zwei Jahren seinen Bachelor durchgezogen, und dann kam als Feedback auf eine Jobabsage, er sei nicht selbstbewusst genug aufgetreten. Das ist hart. Vor allem erlebe ich ihn in seiner gewohnten Umgebung als sehr selbstbewusst.
Eine andere Lücke, die Sie im Buch erwähnen, ist der Class Pay Gap. Was beschreibt dieser und wie hoch ist er in Deutschland?
Hier in Deutschland gibt es leider noch keine Zahlen dazu, ich beziehe mich dabei auf Forschung aus Großbritannien. Er beschreibt, wie beim Gender Pay Gap, wie Menschen in vergleichbaren Positionen unterschiedlich viel verdienen – in diesem Fall diejenigen, die aus einer anderen sozialen Schicht kommen. Das hat diverse Gründe. Viele verhandeln schlecht und sind dankbar, überhaupt einen Job zu haben. Auch ich wäre nie auf die Idee gekommen, bei EY mein Gehalt zu verhandeln.
„Wir von unten. Wie soziale Herkunft über Karrierechancen entscheidet“
Ullstein, 272 Seiten, 19,99 Euro
Sollte die soziale Herkunft als Diskriminierungsmerkmal ins Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aufgenommen werden?
Auf jeden Fall, allein wegen der normativen Kraft, die das hätte. Arbeitgebende müssen sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Und sie dürfen kulturelle Herkunft nicht mit der sozialen Herkunft gleichsetzen. Menschen mit Migrationshintergrund können auch aus Akademikerhaushalten kommen – und tun es auch. Ich kann es deshalb langsam nicht mehr hören, wenn Unternehmen mir sagen, sie würden was für den sozialen Aufstieg tun, wenn sie interkulturelle Trainings machen. Diese Trainings sind super, sie behandeln aber ein anderes Thema.
Ihr Buch appelliert an Arbeitgeber*innen, aber auch an den Gesetzgeber. Sie lassen Anspielungen in Richtung bestimmter Parteien aber aus. Warum?
Das berührendste Kapitel im Buch ist für mich das Nachwort von meiner Ko-Autorin Naomi Ryland. Sie reflektiert darin ihre eigene soziale Herkunft, sie kommt aus privilegierten Verhältnissen – und schreibt: Wir müssen Koalitionen bilden. Davon bin auch ich absolut überzeugt. Wir müssen für diese Revolution Menschen aus privilegierten Schichten mitnehmen und die meisten wollen ja auch Chancengleichheit für alle. Und vielleicht setzt sich eine Politikerin, die jetzt noch das mehrgliedrige Schulsystem verteidigt, nach der Lektüre für Gemeinschaftsschulen ein.
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