Machtübernahme in Afghanistan: Politik der Gerüchte
Laut Berichten gibt es in einzelnen afghanischen Provinzen Proteste gegen die Taliban. Im Pandschir-Tal soll sich Anti-Taliban-Miliz formieren.
In den ostafghanischen Provinzhauptstädten Dschalalabad (Provinz Nangarhar), Asadabad (Kunar) und Khost (in der gleichnamigen Provinz) hat es am Mittwoch erste Demonstrationen gegen die Machtübernahme der Taliban gegeben. Dabei rissen junge Demonstranten weiße Fahnen der Taliban ab und zogen stattdessen mit den gestreiften schwarz-rot-grünen Nationalflaggen durch die Straßen, wie bei Twitter kursierende Bilder zeigten. Quellen der taz bestätigten die Ereignisse. Taliban-Milizen setzten demnach an allen drei Orten Schusswaffen ein. Zwei Menschen starben dabei in Dschalalabad, wie der Sender Al-Jazeera berichtete. Mindestens zwölf Personen aus der mehrere hundert Demonstranten zählenden Menge wurden verletzt.
Proteste gegen die Taliban gab es auch im zentralafghanischen Bamiyan. Dort hatten die Gotteskrieger zuvor eine Statue des 1996 getöteten Mudschaheddin-Führers Abdul Ali Hasara der dortigen schiitischen Hasara-Minderheit gesprengt.
Bisher nicht bestätigt sind Berichte aus dem Pandschir-Tal nördlich von Kabul, nach denen eine Anti-Taliban-Miliz die Kleinstadt Charikar, Hauptstadt der Provinz Parwan, angegriffen und eingenommen hat. Pandschir ist eine traditionelle Hochburg von Gegnern der Taliban und konnte von Letzteren nie erobert worden.
Am Montag hatte der bisherige Vizepräsident des Landes Amrullah Saleh erklärt, dass er entgegen anderslautenden Gerüchten nicht das Land verlassen habe, sondern als Übergangspräsident rechtmäßig im Amt sei und zum bewaffneten Widerstand gegen die Taliban aufrufe. Saleh, Ex-Chef des Geheimdienstes und späterer Innenminister, hat den Ruf eines Folterers und stammt selbst aus Pandschir. Dort soll er sich nun mit dem Sohn des von den Taliban 2001 ermordeten Nationalhelden Ahmad Schah Masud verbündet haben. Angeblich hätten sie eine Miliz von 10.000 Mann aufgestellt.
Vorwand für eine repressive Politik
Ob die Berichte eher Wunschdenken sind oder nicht, ist momentan nicht klar. So wird Politik in Afghanistan immer wieder mit Gerüchten gemacht. Das wurde am Mittwoch auch in Kabul deutlich, wo weiterhin mehrere hundert Menschen den Flughafen belagerten und darauf hofften, mit einem der internationalen Evakuierungsflüge vor den Taliban fliehen zu können. Mobilisiert wurden die Menschen durch Gerüchte, wonach alle, die es auf den Flughafen schaffen, evakuiert werden.
Am Mittwoch gab es nach Angaben der Agentur Reuters, die sich auf einen ungenannten Taliban-Vertreter berief, ein Treffen von Vertretern der Islamisten mit dem Ex-Präsidenten Hamid Karsai und dem bisherigen Vorsitzenden des Hohen Rates für nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah. Der Rat sollte ursprünglich Verhandlungen mit den Taliban führen, über Inhalte des Treffens ist nichts bekannt.
Karsai, Abdullah und der frühere islamistische Warlord Gulbuddin Hekmatyar hatten direkt vor dem Sturz der Regierung durch die Gotteskrieger noch versucht, einen Übergangsrat zu gründen. Der sollte für eine geordnete Machtübergabe sorgen und das jetzige Chaos verhindern. Zugleich wurde vermutet, dass die Politiker sich damit auch ihr eigenes politisches oder gar physisches Überleben sichern wollten. Ob die Taliban wirklich bereit sind, auch Politiker früherer Regierungen mit hohen Posten zu betrauen, ist offen. Ebenso, wie sie auf die entstehenden Proteste reagieren. Die könnten schnell als Vorwand für eine repressive Politik genutzt werden.
Dabei könnten die Taliban wohl von einem Schatz an biometrischen Daten wie Fingerabdrücken oder Iris-Scans profitieren, den die vorherige Regierung zurückgelassen hat, warnte die Organisation Human Rights First. Die Behörden hatten solche Daten für Personalausweise oder die Registrierung zu Wahlen gesammelt.
Derweil hat sich in Kabul das Leben zum Großteil normalisiert. Es sind aber weniger Frauen auf den Straßen. Vor Banken bildeten sich Schlangen von Menschen, die Geld abheben wollten. Der ins Ausland geflohene Zentralbankchef erklärte, die Taliban dürften kaum an die staatlichen Reserven von 9 Milliarden Dollar herankommen. Die seien in New York deponiert. Er erwartet deshalb bald eine Abwertung des Afghani und steigende Preise.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind