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ME/CFS und FußballWieder sichtbar sein

Mit der Pandemie ist die Zahl der an ME/CFS Erkrankten hochgeschnellt. Betroffene Fußballfans kämpfen mit „Empty Stands“ gegen das Vergessenwerden.

Immer mehr Solidarität, hier bei Rot-Weiß Essen im Pokal gegen Dortmund Foto: imago

350.000 Menschen waren zum Start der Männerfußball-Bundesliga live im Stadion. Karl-Philipp Wulfert gehörte nicht dazu. Keine zwölf Kilometer sind es von seinem Zuhause in Friedrichshain bis zum Stadion an der alten Försterei, wo sein 1. FC Union Berlin am Samstag mit 2:1 gegen den VfB Stuttgart gewann. Es könnten jedoch auch genauso gut zwölftausend Kilometer sein. Für ihn würde es keinen Unterschied machen, denn er hat ME/CFS.

Die Abkürzung steht für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom, eine chronische Erkrankung mit anhaltender Erschöpfung, die durch körperliche oder geistige Anstrengung verschlimmert wird. Me­di­zi­ne­r*in­nen nennen das: Post-Exertionelle Malaise (PEM). Betroffene nennen es oft einfach einen Crash. „Das ist wie ein Kater plus Jetlag plus Grippe, nur schlimmer und länger“, sagt Wulfert.

Die Folgen eines solchen Crashs können über Jahre hinweg andauern. Bei ihm kam er an Weihnachten vor zwei Jahren. Seither muss er weitgehend im Bett bleiben. Selbst an Spazierengehen ist nicht zu denken. An ein Fußballspiel im Stadion schon gar nicht. „Alles, was über Liegen hinausgeht, ist eigentlich schon zu viel“, sagt Wulfert.

Mit seiner Krankheit ist er nicht allein. Etwa 650.000 Menschen leiden allein in Deutschland an ME/CFS, mehr als an Diabetes Typ 1 und Multipler Sklerose zusammen. Meist tritt sie als Folge einer Virusinfektion auf, etwa bei Pfeifferschem Drüsenfieber oder Grippe – oder aber bei Covid-19. Im Windschatten der Pandemie ist die Zahl der Betroffenen sprunghaft angestiegen. Die Übergänge zu Long Covid und Post-Vac-Syndrom sind teilweise fließend. Auch Wulfert hatte zweimal Covid-19, bevor es zu seinem Crash kam.

„Wie Watte im Kopf“

Bei Aiden Luca Maischein war es ähnlich. Der 20-Jährige lebt und studiert in Mainz. Fußballerisch ist er wie Wulfert in Berlin zuhause, allerdings bei Hertha BSC. Auch er leidet unter Erschöpfungszuständen. „Ich stehe morgens auf und fühle mich wie vom Lastwagen überfahren“, erzählt er. Hinzu kommen die mentalen Folgen. „Das ist manchmal wie Watte im Kopf.“

Im Vergleich zu Wulfert jedoch hat er nur milde Symptome. Er kann – wie etwa ein Drittel der Betroffenen – weiterhin am Leben teilnehmen, besucht Vorlesungen und trifft Freund*innen. Auch ins Stadion geht er, so oft er kann. Etwa sechsmal die Saison. Am Sonntag beim Spiel seiner Hertha in Darmstadt war er dabei. Mit der Bahn sind das nur dreißig Minuten. Doch er weiß genau, dass das nicht ohne Folgen bleibt. „Jedes Spiel bedeutet, dass ich für etwas anderes keine Kraft mehr habe“, sagt er. „Aber ich weiß auch, dass mir sonst etwas fehlen würde.“

Crash nach dem Fußballgucken

Die meisten Spiele verfolgt er am Laptop auf dem Bett. Wulfert fehlt selbst dafür oft die Energie. Manchmal macht er es doch. „Ich habe das EM-Spiel von Deutschland gegen Frankreich gesehen“, erzählt er. „Danach hatte ich einen Crash und es ging mir eine Woche erheblich schlechter.“

Ein Großteil seiner Zeit und Energie fließt derzeit allerdings in etwas anderes. Vor knapp einem Jahr gründete er zusammen mit anderen Empty Stands, zu Deutsch „Leere Tribünen“. Zunächst war es nur eine Art Selbsthilfegruppe auf Signal für Fans mit ME/CFS, doch inzwischen ist daraus sehr viel mehr geworden.

Kampf um Reichweite

Den Selbsthilfechat gibt es noch immer. Inzwischen tauschen sich dort knapp 90 Fußballfans aus. Getragen von etwa einem Dutzend Aktiven erzeugt die Gruppe mittlerweile jedoch auch erfolgreich Reichweite zum Thema und wirbt Spendengelder für die ME/CFS Research Foundation zur Erforschung der Krankheit ein.

Wer mitmachen will, kann sich an der Spendenliga beteiligen, in der man freiwillig einen bestimmten Betrag für jedes Tor oder jeden Punkt des jeweiligen Vereins spendet. Aktuell führt Rot-Weiss Essen vor den Frauen des FC Barcelona. Die Saison ist jedoch noch lang und man kann jederzeit einsteigen.

Solidarität von Fanszenen

Auch in den Stadien ist Empty Stands präsent. So wird es in diesem Jahr noch gemeinsame Aktionen mit Hannover 96 und dem VfL Osnabrück geben. Bei Werder Bremen war man im März zu Gast. Darüber hinaus zeigten sich zahlreiche Fanszenen von Kaiserslautern bis Babelsberg in Form von Bannern und Spruchbändern solidarisch. Jede Aufmerksamkeit hilft. „Wir sind unsichtbar, weil wir nicht da sein können“, sagt Maischein. „Es besteht die Gefahr, dass wir vergessen werden.“

Für ihn und Wulfert ist Empty Stands auch eine Möglichkeit, weiter am Fußball teilhaben zu können – und sei es auch nur durch das gemeinsame Tippspiel. „Das ist einfach ein Stück Normalität“, sagt Wulfert. „Ein bisschen soziale Teilhabe.“ Das klingt nach wenig. Doch für Wulfert und Maischein und all die anderen, deren Plätze im Stadion leer bleiben, bedeutet es sehr viel.

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