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Long Covid und Transition„Ich bin nicht so der Typ für Utopien“

Der Autor Selma Kay Matter hat sein Debüt „Muskeln aus Plastik“ herausgebracht. Ein Gespräch über trans*ness, chronische Krankheiten und Literatur.

Selma Kay Matter versteht Krankheit und trans* Sein als Bewegungen, in denen man feste Zustände verlässt Foto: Anja Weber
Interview von Jana Petersen

Ich öffne das Zoom-Fenster und lasse Selma Kay Matter in den Online-Raum. Matter sitzt in einem hellen Zimmer mit unverputzten Wänden, im Hintergrund stehen Pflanzen. Wir treffen uns online, weil ich, genau wie Matter, ME/CFS habe, Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronic Fatigue Syndrome, eine chronische Multisystemerkrankung, die stark behindernd sein kann. Ein physisches Treffen wäre für uns beide sehr anstrengend.

taz: Ich liege schon den ganzen Tag, um fit zu sein fürs Interview. Kürzlich ist Ihr Buch „Muskeln aus Plastik“ erschienen. Während des Schreibens haben auch Sie Monate im Bett verbracht, niedergestreckt von Long Covid und ME/CFS.

Selma Kay Matter: Ich konnte kaum tippen, ohne Schmerzen in den Fingern und im Ellbogen zu kriegen. Ich konnte nur kurz am Tisch sitzen. Es gab Monate, die unklar und schwankend waren. Niemand wusste, was mit mir los war. Es war einfach schrecklich.

taz: Wie geht es Ihnen heute?

Matter: Besser. Gleichzeitig gibt es eine riesige, nicht sichtbare Rückseite: Auf Lesungen wirke ich gesund, aber hinter jedem Auftritt stehen viele Stunden Ausruhen, vorher, nachher. Sobald ich eine Erkältung kriege, bin ich einen Monat komplett raus. Ich muss mir gut überlegen, ob ich auf eine Party gehe, wenn ich danach Lesungen habe. Wenn ich mich anstecke, kostet mich das viel.

taz: Sie schreiben in „Muskeln aus Plastik“ über Erfahrungen von Krankheit und Behinderung sowie Transition und trans*ness. Was ist das Besondere an dieser Überschneidung?

Matter: Ich möchte das spezifizieren, denn die trans*­fe­mi­ni­ne Erfahrung ist anders als die trans*maskuline, die ich erlebe …

Im Interview: Selma Kay Matter

Der Mensch

Selma Kay Matter, geboren 1998 in Zürich, ist Dramatiker und Autor. Er studierte Szenisches Schreiben an der UdK in Berlin und Literatur, Theater und Philosophie an der Universität Hildesheim. Matters Texte beschäftigen sich mit den Auswirkungen der Klimakrise, mit Körpern, Queerness, Krankheit und Behinderung. Matter war Teil der Leitung des Literaturfestivals Prosanova und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Bella Triste.

Der Autor

Matters Theaterstücke wurden vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erschienen sein Theaterstück „Grelle Tage“ bei Suhrkamp und das Prosadebüt „Muskeln aus Plastik“ bei Hanser.

taz: Sie sind seit etwa zwei Jahren in einer Transition und erscheinen seitdem maskuliner.

Matter: In trans*­mas­ku­li­nen Kontexten gibt es ein Versprechen davon, sich Männlichkeit antrainieren zu können, eine regelrechte Gymbunny-Kultur, in der trans*­mas­ku­li­ne Personen viel Zeit in Fitness-Studios verbringen. Darüber bildet sich auch eine Community: Hey, gehen wir zusammen trainieren? Im Gym sind zwar manche queerfeindlich, aber wir gehen da jetzt trotzdem gemeinsam hin. Und wenn man zu krank fürs Gym ist, wie ich es war, ist diese Form der Männlichkeitskonstruktion außer Reichweite. Außerdem gibt es kaum Vorbilder oder Erzählungen zu dieser Intersektion zwischen trans* Sein und Behinderung.

taz: Im Buch spaltet sich die Hauptperson in zwei Figuren, den „abled sporty boy Kay“, also den sportlichen, nicht behinderten Kay, und die „Sick Woman Selma“, die kranke Frau Selma.

Matter: Der „abled sporty boy“ knüpft genau bei dieser Gymbunny-Kultur an, er konstruiert sein Gender über Fitness. Es ist ja sowieso schon eine Konstruktionsleistung und braucht viel Fantasie, sich als genderqueer zu verstehen und aufzutreten. Man muss diese Handlungen permanent wiederholen, damit das Gender geglaubt wird und Gültigkeit hat. Gender-Herstellen ist Arbeit. Und diese Arbeit wird krass anstrengend, wenn man für alles zu krank ist.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

taz: Und die „Sick Woman Selma“?

Matter: Den Begriff „Sick Woman“ habe ich von Au­to­r*in Johanna Hedva geborgt. Für Hedva ist die Sick Woman ein Subjekt, das keine Frau sein muss, es ist ein Modell, das Zuschreibungen transportiert, die mit der „kranken Frau“ assoziiert werden: Du übertreibst, du bist hysterisch, es interessiert den Kapitalismus und die Mehrheitsgesellschaft nur, ob du arbeitsfähig bist, dein kranker Körper ist nichts wert oder nicht begehrenswert.

taz: Wie eng ist die Hauptfigur, Kay, mit Ihnen verwandt?

Matter: Der Schreibimpuls kam von mir, Schreiben hat mich gerettet damals. Und die Fragen, die sich Kay im Buch stellt, die habe ich mir auch gestellt. Zum Beispiel: Wie können wir als chronisch kranke Menschen im Kapitalismus überleben? Wie könnten Netzwerke gegenseitiger Care aussehen – außerhalb der blutsverwandten Familie? Wie hängen queere Scham und das Bedürfnis, gesehen zu werden, zusammen? Die Story ist eine Mischung aus Erlebtem und Erdachtem.

taz: Kranksein konfrontiert mit einem System, das keine Rücksicht auf Transition oder trans*­ness nimmt. In Praxen wird Kay etwa mit „Frau Matter“ aufgerufen. Passiert Ihnen das auch?

Matter: Ja. Ich denke dann: Was ist mir bei diesem Arztbesuch am wichtigsten? Will ich ernst genommen werden in meinem Gender oder in meiner Krankheit? Beides kann ich wahrscheinlich nicht bekommen. Manche Ärz­t*in­nen glauben nicht an Chronic Fatigue Syndrome – und wenn man dann noch Extra-Wünsche hat, wie beim Namen aufgerufen werden und nicht mit „Frau“, dann ist es gelaufen.

taz: Mittlerweile nehmen Sie Testosteron, man liest Sie nicht mehr als Frau.

Matter: Dass ich inzwischen männlicher gelesen werde, ist gleichzeitig Vor- und Nachteil. Einerseits wird man im Gesundheitssystem mit einer chronischen Erkrankung als Mann ernster genommen. Auf der anderen Seite passen mein Name und Geschlecht im Ausweis nicht zu meinem Aussehen, und sobald jemand das sieht, ist die Verwirrung groß.

taz: Im November ist das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft getreten, man kann Geschlecht und Namen auf dem Amt einfacher umtragen lassen. Wollen Sie diese Möglichkeit nutzen?

Matter: Ich möchte meinen Geschlechtseintrag und Namen auf jeden Fall ändern lassen, schon deshalb, weil Grenzkontrollen für mich zunehmend stressig werden. Ich hatte schon mehrfach die Situation, dass mich Zollbeamte nicht über die Grenze lassen wollten, weil sie mir nicht geglaubt haben, dass der Pass zu mir gehört. In der Schweiz lässt sich der Geschlechtseintrag seit 2022 sehr unkompliziert ändern, ich werde das voraussichtlich dort machen, weil mein Hauptwohnsitz in Zürich ist und ich keine deutsche Staatsbürgerschaft habe. Für mich war schnell klar, dass ich mich für ein „m“ und nicht für ein „d“ entscheiden werde, weil das sicherer ist, wenn ich zum Beispiel in ein sehr queerfeindliches Land reise oder auch nur an der Supermarktkasse meinen Ausweis zeigen muss. Ich habe dann die Wahl, ob ich mich als trans outen möchte oder nicht, abhängig davon, wie sicher sich die Situation anfühlt.

taz: Sogenannte Identitätspolitiken werden – nicht nur aus dem rechten Spektrum – kritisiert. Da heißt es zum Beispiel, es werde zu viel Fokus auf Partikularinteressen gelegt.

Matter: Mich nervt, dass mein Text von konservativer Seite als identitätspolitisch eingeordnet wird. Ich versuche in „Muskeln aus Plastik“ eine intersektionale Perspektive, aus der heraus vieles übertragbar ist. Ich erzähle von romantischen Beziehungen über Unterschiede hinweg, von Schmerz, der Endlichkeit des Lebens, von Lust, also Themen, die über Partikularität hinausgehen. Den Zugang über das Spezifische finde ich am ehrlichsten, weil die Behauptung von etwas Universalem eigentlich immer nur aus Machtpositionen heraus kommen kann.

taz: Der spanische Philosoph Paul B. Preciado bezeichnet seine Transition als einen Prozess der „Desidentifikation“.

Matter: Ich kann viel damit anfangen, dass man nicht von einem festen Subjekt oder einer Identität ausgeht. Hier sehe ich eine Überschneidung zwischen Krankheit und trans* Sein: Ich verstehe sie als Bewegungen, in denen man feste Zustände verlässt. Man verlässt eine Erzählung vom unversehrten Körper, man verlässt eine Zone, in der der Tod gesellschaftlich verdrängt wird, man verlässt einen Raum, in dem Gender ein fester Zustand ist. Kaum kann ich mich nicht mehr mit all dem identifizieren, bin ich gezwungen, davon abzurücken. Dann bin ich in einem seltsamen Status dazwischen.

taz: Sie beschreiben im Buch eine sogenannte Crip Time, also eine spezifische Zeitlichkeit des Behindertseins.

Matter: Das Konzept von Crip Time hat die queerfeministische Denkerin Alison Kafer entwickelt. Ihr Gedanke ist, dass für Behinderte oder Leute mit chronischen Erkrankungen normative Zeit als Konzept nicht mehr funktioniert. Bestimmte Meilensteine, die von der kapitalistischen Mehrheitsgesellschaft erwartet werden, werden nicht erreicht, manches dauert länger, manches geht schneller oder gar nicht. Diese Zeitlichkeit lässt sich auch auf trans* Sein gut anwenden. Man ist einerseits plötzlich wieder im Teenageralter und andererseits ist man ja trotzdem schon Mitte 20 oder älter. Das ist natürlich eine riesengroße Frechheit gegenüber dem Kapitalismus, sich das herauszunehmen: aus dieser normativen Zeit zu treten und noch einmal zu pubertieren. Das ist im Grunde sehr revolutionär oder aktivistisch, ob man das will oder nicht.

taz: Sie sehen in chronischen Erkrankungen ein „dramaturgisches Problem“. Was meinen Sie damit?

Matter: Ich komme vom Theater, deswegen denke ich immer über Dramaturgien nach. Ein Unfall etwa ist eine Disruption. Vorher war die Person „gesund“ – also das „Gesundsein“ ist natürlich ein Konstrukt –, jetzt ist die Person verletzt. Jetzt muss man der Person die Einkaufstaschen tragen, denn die Person hat Krücken. Und dann ist wieder alles gut und dann ist die Person wieder gesund und sorgt für sich selbst. Das Ereignis erzeugt Empathie, und für diese Zeit können sich etwa Leute motivieren zu helfen.

taz: Und bei chronischen Erkrankungen fällt diese Empathie irgendwann weg?

Matter: Das Schreckliche ist ja: Man gewöhnt sich an alles. Auch an schlimme Dinge. Man gewöhnt sich daran, dass Leute nicht klarkommen und nicht die Care haben, die sie brauchen. Natürlich bräuchte es Strukturen von staatlicher Seite, aber eben auch eine nachhaltige Praxis des Füreinandersorgens, abgesehen vom spontanen Affekt. Wer hat schon die Nerven, außer man ist wirklich politisiert oder selbst betroffen, jeden Tag wieder zu fragen: Und, wie ist deine Migräne heute?

taz: Ich ertrage durch ME/CFS die Stadt nicht mehr. Viel zu viel Stress. Aber aufs Land kann ich nicht, weil ich da niemanden kenne, und dadurch wird genau diese Praxis des Füreinandersorgens schwer. Wie sind Sie mit diesem Dilemma umgegangen?

Matter: Ich bin aus Berlin nach Sachsen-Anhalt in ein Wohnprojekt mit Freun­d*in­nen gezogen. Mich macht ME/CFS auch krass reizempfindlich, und hier ist es ruhig. Ich war heute noch nicht draußen und habe trotzdem schon Leute gesehen. Ich vereinsame nicht. Es ist alles weniger anstrengend, die Wege sind kürzer. Wir teilen Aufgaben nach Kapazitäten auf. Nicht alle müssen die gleiche Leistung bringen, weil nicht alle gleichviel leisten können.

taz: Klingt nach einem Care Web, wie Sie es im Buch beschreiben, einem Netzwerk der Pflege und Fürsorge.

Matter: Genau. Und es ist gar nicht einfach, so etwas aufzubauen. In vermeintlich linken, nicht besonders radikalen Szenen, zum Beispiel im Kulturbetrieb, wird oft so getan wird, als wären alle gleich leistungsfähig. Oft wird chronisches Kranksein gar nicht thematisiert, weil alle politisch korrekt sein und niemandem zu nahe treten wollen. Es gibt viel Angst, etwas Falsches zu sagen, so wie es Angst gibt, etwas Rassistisches oder Queerfeindliches zu sagen. Dann wird lieber geschwiegen. Für Care Webs ist es aber wichtig, miteinander im Dialog zu sein. Wenn man sich zusammen in einen Raum begibt und man unterschiedlich ist, dann wird man sich verletzen. Aber man kann das auch reparieren.

taz: Im Buch ist Kay mit Aaron zusammen, mit einer nichtbehinderten Person. Was ist das Besondere an so einer Beziehung?

Matter: Zunächst einmal ist es praktisch, wenn nichtbehinderte Leute Teil von Care Webs sind, weil sie oft mehr leisten können. Sie verdienen häufig mehr Geld, haben mehr Kapazitäten. Auf der anderen Seite kann es mehr Reibung geben, eben wegen dieser Unterschiede. Es ist wichtig, in diesen Beziehungen das Machtgefälle zu reflektieren und die unterschiedlichen Privilegien. So wie in einer interracial oder in einer heterosexuellen Beziehung.

taz: Sie schreiben auch über Behinderung und Begehren. Was verbindet Fürsorge und Verlangen?

Matter: Dafür müssen wir ganz neue Erzählungen erfinden. Au­to­r*in Johanna Hedva tut das etwa in dem aktuellen Text „How to Tell When We Will Die“ über Schmerz und Behinderung. Zwischen Kink, also sexuellen Vorlieben, und Care gibt es Parallelen, so Hedva, zum Beispiel die Fragen: Fühlt sich das gut für dich an? Wie willst du es? Was brauchst du? Mehr davon oder weniger? Care ist keine Einbahnstraße, so wie Kink es auch nicht ist. Alle Beteiligten haben Grenzen. Außerdem finden sowohl Begehren als auch Care oft im privaten Raum statt, Zuhause, im Bett. Es sind fragile Beziehungen, die leicht kippen können, die große Klarheit brauchen und viel Kommunikation. Bei beidem gebe ich dem Gegenüber, wonach es sich gerade sehnt. Und manchmal ist das einfach nur, was zu essen. Und nicht küssen oder Sex.

taz: Wenn Menschen mit ME/CFS Sex haben, kann die Anstrengung zu einem Crash führen, also zu einem Zusammenbruch vor Erschöpfung, von dem man sich lange wieder erholen muss. Im Buch beschreiben Sie eine Ohrfeige als Sex-Ersatz, um einen Crash zu vermeiden. Worin besteht der Reiz des Schmerzes?

Matter: Das ist ja eine grundsätzliche Frage an BDSM …

taz: … also an sexuelle Praktiken, die mit Dominanz und Unterwerfung spielen.

Matter: Genau, aber zusammengedacht mit chronischen Schmerzen geht es vor allem darum, sich einen Schmerz auszusuchen.

taz: Kommt man dabei „an einen Ort außerhalb des Schmerzes“, wie Kay es im Buch beschreibt?

Matter: Ja. Es geht in meinem Text auch um die Möglichkeiten und die Unmöglichkeiten von Exzess. Exzess wird ja oft verstanden als Übertreibung, dabei heißt es wörtlich „heraustreten“. Durch die bewusste Entscheidung der Ohrfeige trete ich heraus aus einem Kontinuum von Schmerzen und Krankheiten, von dem ich nie weiß, ob und wann es endet. Es gibt eine bevormundende und ableistische Idee davon, dass Kink oder harter Sex mit Schmerzen nichts für Leute mit chronischen Erkrankungen oder behinderte Leute ist, weil die ja zart sind und man mit denen vorsichtig sein muss. Das scheint mir eine Abwandlung des gängigen Narrativs, dass Kranksein mit Schwäche assoziiert. Das ist natürlich völliger Quatsch. Man muss richtig hardcore sein, um Kranksein und Schmerzen jeden Tag auszuhalten.

taz: Sie schreiben: „Ich will, dass dieser Text ist wie die Narben auf meinem Unterarm.“ Inwiefern ist Ihr Buch eine Narbe, ein Zeugnis des Schmerzes?

Matter: Vielleicht ist der größte Schmerz bei dieser Art von Erkrankung, die so schlecht erforscht ist und psychologisiert wird, der darüber, dass man sich kaum mitteilen kann und Leute, die nicht betroffen sind, die Schwere der Erkrankung wirklich nicht erfassen können. Ich schreibe auf 240 Buchseiten gegen diese Sprachlosigkeit an.

taz: Ist der Schmerz durch das Schreiben weniger geworden?

Matter: Ja. Ich habe das Gefühl, im deutschsprachigen Raum ist es verpönt, von literarischem Schreiben als therapeutisches Schreiben zu denken oder zu sprechen. Entweder kann das Schreiben therapeutisch sein, dann macht man das angeleitet von ei­ner*m Ergotherapeut*in. Oder es ist halt literarisch und wird von einem Genie gemacht. Ich glaube, die meisten Schreibenden haben ein Thema, an dem sie irgendwann vorbei müssen. Ein bisschen war das für mich dieser Text. Schmerz, Sprache, Einsamkeit, diese Themen begleiten mich schon lange. Es liegt etwas sehr Heilsames darin, das alles einmal durchgearbeitet zu haben.

taz: Was hat Ihnen außerdem geholfen?

Matter: Grundlegend war, glaube ich, dass ich mir eingestanden habe, wie schlimm es wirklich ist, und das hat lange gedauert. Als es körperlich besser ging, wurde es mental schlechter. Da hatte sich biochemisch was verschoben, ich hatte Ängste, ich war depressiv. So eine schwere Erkrankung ist traumatisch. Ich habe alles abgesagt. Und einiges aufgegeben. Ich musste ein Stück wegkommen von so einem Overachiever-Ding. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Ich habe körperlich so krass auf emotionalen Stress reagiert, dass ich mit manchen Leuten keinen Kontakt mehr haben konnte. Ich habe Freundschaften beendet. Ich habe die Stadt verlassen.

taz: Wie könnte ein besserer gesellschaftlicher Umgang mit Krankheit und Care aussehen, haben Sie eine Utopie?

Matter: Ich bin nicht so der Typ für Utopien. In meiner Gegenwart und Realität gibt es gegenseitige Fürsorge außerhalb von familiären und romantischen Kontexten, das ist schon unfassbar viel. Mein Wunsch wäre, dass alle Menschen Zugang zu solchen Netzwerken haben, dass die ganze Gesellschaft durchzogen ist von Care Webs. Aber das geht nur schwer, ohne vorher rassistische, misogyne, kapitalistische und andere diskriminierende Strukturen abzuschaffen.

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