London im Corona-Sommer: Heiß und leer
Nichts ist, wie es war, in der britischen Hauptstadt London. Manches wird vielleicht nie wieder so – und manches besser. Ein Spaziergang.
„Darf ich vielleicht gar nicht sagen, dass ich aus Manchester bin“, scherzt er, denn in Manchester gelten derzeit, anders als in London, verschärfte Distanzierungsregeln aufgrund eines lokalen Anstiegs der Infektionen. Mancunier*innen dürfen sich nicht gegenseitig besuchen. Reisen, etwa nach London, sind jedoch erlaubt, solange soziale Distanz eingehalten wird.
„London gefällt uns eigentlich besser und ist angenehmer, weil die Stadt nicht so voll ist wie sonst!“, behauptet Sajid. Außer ein paar wenigen Tourist*innen steht hier nur eine Reihe Obdachloser ordentlich in der Schlange vor einem Stand einer Wohlfahrtsorganisation. Auch das gibt es genau hier erst seit der Pandemie. Jetzt müssen sie nicht den Horden von Tourist*Innen weichen, die sich normalerweise hier tummeln.
Immerhin können die Besucher*innen der britischen Hauptstadt seit August wieder ins Wachsfigurenkabinett, in die Nationalgalerie und ins Naturkundemuseum gehen. Der Zoo und der weltberühmte Botanische Garten haben schon seit letztem Monat offen, ja sogar das Riesenrad London Eye dreht sich wieder, und wer will, kann ins Kino gehen, wo jedoch Abstands- und Hygieneregeln gelten. Theatervorstellungen gibt es noch nicht. Die Royal Opera veranstaltet Drive-in-Kino-Vorstellungen unter anderem auch in London. Eine Maskenpflicht besteht übrigens in allen öffentlichen Räumen in Großbritannien, Asthmatiker*innen und Kleinkinder ausgenommen.
Am Trafalgar Square drängt Azims Frau ihn nun herüber zur Nationalgalerie. „Schau mal, die haben auf, da stehen Leute an“, bemerkt sie und hat es plötzlich eilig. Aber sie wird enttäuscht: Wer reinwill, muss, wie bei allen Londoner Attraktionen, vorher buchen. Nur so lässt sich die Besucherzahl im Coronazeitalter regeln.
Dennoch versucht die britische Regierung die Bevölkerung zum Ausgehen zu ermuntern. Montags bis mittwochs gibt es zehn Pfund (11 Euro) Rabatt auf jede im Restaurant verzehrte Speise pro Person. Das hilft, erzählt Archie Katrics, 34, Manager des japanischen Grillrestaurants Robata in Soho. „Der Umsatz ist nun an jedem Tag gut, weil Kundschaft auch an den normalerweise schwachen Tagen ins Restaurant kommt“, sagt er. „Wir mussten sogar neue Leute einstellen.“
Allerdings sei das nicht nur wegen der Gutscheine, sondern auch weil der Bezirk Westminster auf die Idee kam, eine Straßensperrung zu erlauben, damit die Restaurants ihre Tische auf die Straße stellen können. „Wir konnten so den Platz, den wir aufgrund der Distanzierungsmaßnahmen drinnen verloren haben, mit Tischen draußen kompensieren“, erklärt Katrics. An heißen Sommerabenden gleicht Soho nun einer mediterranen Innenstadt – eine Veränderung zum Positiven, dank Coronavirus.
Das ist nicht die einzige positive Entwicklung in London. So hat der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan gemeinsam mit vielen der 32 Londoner Bezirksverwaltungen wegen der Pandemie schnell viele Fußwege verbreitern lassen und Fahrradwege geschaffen, wo es noch nie vorher welche gab, etwa auf dem stadtautobahnähnlichen Innenstadtring zwischen den Bahnhöfen Euston und King’s Cross. Die Veränderungen sollen bleiben. Grund war die Erkenntnis zum Höhepunkt des Lockdowns, dass weniger Autoverkehr und mehr Platz für Radfahrer*innen und Fußgänger*innen die Stadt lebenswerter macht.
An den übriggebliebenen Rest der Autofahrer*innen schmeißen sich inzwischen, auch das ist neu, an jeder großen Straßenkreuzung um Geld bettelnde Menschen. Die sind nicht die einzigen Sorgen des Bürgermeisters. Der öffentliche Nahverkehr, für den Sadiq Khan die Verantwortung trägt, steht nun tief in den roten Zahlen, da der Pendler*Innenverkehr zu großen Teilen ausfällt. Zwar rettete das Verkehrsministerium die öffentlichen Verkehrsbetriebe mit umgerechnet 1,7 Milliarden Euro, verlangte aber dafür eine gründliche und tiefgehende Überprüfung. Fahrerlose Züge und Privatisierungen könnten sich hier anbahnen.
Aber die Fahrgäste bleiben bis auf Weiteres aus, und das liegt nicht nur am fehlenden Berufsverkehr. Im Touristenviertel Covent Garden blickt Muhamad Andru, 25, in die gähnende Leere seines Souvenirladens „Red Bus“. Niemand will derzeit seine Teddybären mit Unionjacks und die Abbilder der königlichen Familie kaufen. Normal sei ein Tagesumsatz von über 2.000 Pfund (2.200 Euro), erzählt er – momentan seien es nicht mal 30. „Mein Chef und ich vereinbarten, dass er mir derzeit nur einen Teil meines Gehalts zahlt und den Rest, wenn alles wieder besser wird“, berichtet er.
Das Bedford-Hotel gegenüber dem Laden hat keine Gäste. Der Rezeptionist des riesigen Royal National Hotels in der Nähe von Russell Square gesteht, dass das Hotel, dessen Kapazität bei 3.000 Gästen liegt, momentan nur 50 Gäste beherbergt – alle aus Großbritannien. Aussichten auf Besuche*innen, die normalerweise mit dem Eurostar kommen, sind seit dem Wochenende noch geringer geworden, weil sich alle aus Belgien Anreisenden wegen eines Anstiegs der Seuche dort bei der Ankunft in eine 14-tägige Quarantäne begeben müssen.
Der Pub Marquis Cornwallis in der Marchmont Street, einer Einkaufsstraße in Bloomsbury, hat seit Anfang Juli wieder geöffnet. Gäste müssen aber ihre Adresse und Namen hinterlassen, damit sie bei Infizierungsgefahr kontaktiert werden können, berichtet Managerin Dasa Barvikova, 28. „Es ist auf alle Fälle weniger los, vor allem fehlen Besucher und Leute aus den Büros, und es macht einfach nicht mehr so Spaß wie sonst“, findet sie.
Eigentlich wurde erwartet, dass mit dem Ende des Lockdowns die britische Wirtschaft wieder Fahrt aufnimmt und Arbeitskräfte wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Die letzten Zahlungen des staatlichen Kurzarbeiterprogramms „Coronavirus Jobs Retention Scheme“ – Arbeitnehmer*innen bekommen bis zu 80 Prozent ihres Gehalts in Höhe von maximal umgerechnet 2.800 Euro pro Monat ausgezahlt – enden erst am 31. Oktober. Bis dahin wird die Initiative schrittweise zurückgeschraubt. Doch die derzeitige Leere der Londoner Innenstadt beweist, dass zu einer großflächigen Rückkehr in die Bürotürme noch kein großer Enthusiasmus besteht.
Gerade im Finanz- und im IT-Bereich wird vieles über Zoom und vom Homeoffice aus geregelt. Viele Angestellte kommen gar nicht mehr in die Stadt. Resigniert entschlossen sich bereits zahlreiche Geschäfte zur Aufgabe. Auch viele Ketten schließen Filialen, in die sonst die Berufspendler gehen.
Inzwischen überlegen Immobilieninvestor*innen und Lokalbehörden, ob diese frei gewordenen Räume in Wohnungen umgebaut werden sollten. Neue erleichterte Bauvorschriften der britischen Regierung sollen hier bald helfen.
Der Wegfall des Berufsverkehrs erklärt auch, warum der Harrison Pub beim Bahnhof Kings Cross immer noch geschlossen hat. Alias Harwood, 52, ein Dekorateur, nutzt die Zeit, um den Holzboden zu sanieren. Er zählt die Gründe auf, weshalb der Pub noch nicht öffnet: „Die umliegenden Büros haben alle noch zu. Das ist ein großer Teil der Kundschaft. Dann trifft sich auch die Folkloregruppe nicht, die den Keller mietet, und die Zimmer für Übernachtungen oben sind ebenfalls leer.“
Wer in London derzeit nach offenen Clubs und Musikkonzerten sucht, sucht vergeblich. Wer dennoch feiern will, geht in offene Parkanlagen wie Hampstead Heath. Zu lauter Musik versammeln sich viele, meist weit über die erlaubte Menge von sechs Personen hinaus ohne soziale Distanz. Wiesen werden zu improvisierten Tanzflächen. Auch von Raves in so manchen Wohngegenden wurde berichtet.
Andere Londoner*innen flüchten sich wegen des heißen Wetters an die Strände, von wo sie oft wegen Überfüllung wieder nach Hause geschickt werden. Dabei können sie sich bereits in den vollgepackten Zügen mit dem Coronavirus infizieren. Da insbesondere Menschen unter 30 die Abstandsregeln ignorieren, ist es kein Wunder, dass auch in Großbritannien die meisten neu Infizierten derzeit unter 30 Jahre alt sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern