Lobbyschlacht um Ewigkeitschemikalien: Gefährliche Stoffe im Trinkwasser
Sie finden sich in vielen Kunststoff-Produkten – und gefährden die Gesundheit. LobbyistInnen arbeiten mit dubiosen Mitteln daran, dass das so bleibt.
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Nachdem in 278 Wasserproben der Grenzwert von jeweils mehr als 100 Nanogramm pro Liter für einzelne Stoffe aus der Gruppe der Per- und polyfluorierten Alkylverbindungen (PFAS) gefunden wurden, schlug der Industrieverband Water UK gegenüber dem britischen Guardian Alarm. Water UK wünsche „ein Verbot von PFAS und die Entwicklung eines nationalen Plans zur Entfernung von PFAS aus der Umwelt, der von den Herstellern bezahlt werden sollte.“
Tatsächlich überraschen die Funde ExpertInnen jedoch kaum. PFAS sind eines der global größten Umweltprobleme. Die Chemikalien befinden sich in Regenjacken, Pizza-Boxen, Imprägniersprays, Hautpflegeprodukten oder Teflon-Pfannen. Sie werden auch in vielen Industrieprozessen benutzt, sind somit fast überall zu finden – aber bauen sich nur sehr langsam ab.
Die Stoffgruppe umfasst mehr als 10.000 verschiedene Chemikalien, von denen viele hochgiftig sind, vor allem für die Entwicklung von Kindern. Sie stehen unter anderem im Verdacht, Leberschäden sowie Nieren- und Hodenkrebs zu verursachen.
Schadensbeseitigung kostet Europa Billionen
Die Beseitigung der Schäden durch PFAS kostet in den kommenden 20 Jahren in 31 europäischen Staaten zwei Billionen Euro, jedes Jahr sind das 95 Milliarden Euro, rechnete in dieser Woche ein internationaler Rechercheverband namens „The Forever Pollution Project“ vor. Die JournalistInnen und WissenschaftlerInnen untersuchten zudem die Argumente der Industrielobby, die versucht, in Europa eine stärkere Regulierung von PFAS zu verhindern – mit erschreckenden Ergebnissen.
Bislang sind in Europa nur zwei Stoffe aus der PFAS-Gruppe verboten. Anfang 2023 hatte Deutschland jedoch gemeinsam mit vier anderen Ländern vorgeschlagen, die Nutzung in der EU deutlich zu beschränken. Dies habe einen regelrechten „Lobby-Ansturm“ gegen die Regulierungspläne ausgelöst, schreibt das Rechercheteam. Die Argumente der IndustrievertreterInnen seien in großen Teilen „irreführend, übertrieben und unlauter“.
Das Rechercheteam untersuchte etwa 1.200 Lobbyargumente gegen eine strengere Regulierung. Urteil: Die Kunststoffindustrie habe dabei PolitikerInnen aus 16 Ländern mit einer „massiven Desinformationskampagne“ versucht zu beeinflussen.
Ein Beispiel: In fast verschiedenen 1.000 Lobbydokumenten sei auf zwei wissenschaftliche Studien hingewiesen worden, in denen es hieß, die PFAS-Stoffgruppe Fluorpolymere seien „Polymers of Low Concern“ (PLC), also unbedenklich, gemäß den von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) festgelegten Kriterien – und sollten deshalb nicht reguliert werden.
Als Begründung wurde genannt, Fluorpolymere seien zu groß, um in menschliche Zellen einzudringen und dort Schaden anzurichten. Die AutorInnen der Papiere seien jedoch IndustriemitarbeiterInnen oder BeraterInnen gewesen, also nicht unabhängig, heißt es von dem Rechercheverband.
Lobby nutzt ausgedachte Kriterien
Auch die von den Lobbyisten vorgebrachten „PLC-Kriterien“ existieren demnach nicht. In einer Erklärung gegenüber dem Rechercheprojekt bestätigte die OECD, dass „kein vereinbarter Kriteriensatz auf OECD-Ebene festgelegt wurde“ und dass „die OECD keine Bewertung von Fluorpolymeren durchgeführt hat“.
Trotz der dubiosen Argumentation dringen die IndustrievertreterInnen bei der Politik durch. Auf Nachfrage habe das Bundeswirtschaftsministerium laut dem Rechercheverband zunächst auf die OECD-Kriterien verwiesen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach sich im vergangenen September bei einer Veranstaltung der Chemieindustrie erneut gegen ein „undifferenziertes Totalverbot“ von einzelnen PFAS-Stoffgruppen aus.
Umwelt- und VerbraucherschützerInnen fordern seit langem ein umfassendes Verbot der Ewigkeitschemikalien. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte zu Beginn ihrer vergangenen Legislaturperiode eine entsprechende Reform der EU-Chemikalienverordnung Reach angekündigt, aber keinen Gesetzesvorschlag vorgelegt. Die seit Dezember amtierende Umweltkommissarin Jessika Roswall will die Verordnung „vereinfachen“, konkrete Vorschläge dafür gibt es bislang allerdings nicht.
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