Linker Flügel gegen Realos: Grüne suchen neue Spitze
Anja Piel, Annalena Baerbock, Robert Habeck: Auf dem Parteitag Ende Januar wird es zur Kampfabstimmung über die neuen Spitzengrünen kommen.
Peter begründete ihren Rückzug auch mit Piels Kandidatur. „Mir ist wichtig, dass die verschiedenen Meinungen, Richtungen, Strömungen in der Parteispitze weiterhin vertreten sind“, sagte Peter. Sie wolle sich einer Erneuerung an der Spitze der Partei nicht verschließen. „Jetzt gibt es ein breites Angebot für die Parteispitze.“
Traditionell ist das grüne Führungsduo doppelt quotiert. Es gibt eine Frau und einen Mann und einen Vertreter des linken und des realpolitischen Flügels. Bisher hatten lediglich zwei Realos Kandidaturen angekündigt: Schleswig-Holsteins Energiewendeminister Robert Habeck und die Klimaschutzexpertin Annalena Baerbock aus Brandenburg.
Seit Wochen diskutieren die Grünen deshalb, ob Personalpolitik nach Flügelproporz noch zeitgemäß ist. Führende Realos, etwa Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann oder Parteichef Cem Özdemir, erklärten das Flügeldenken für veraltet, Linksgrüne wie Peter hielten dagegen.
Steuererhöhungen sind bei Realos verpönt
Piel setzt in ihrer Bewerbung offensiv linke Akzente. „Glauben wir daran, dass wir mit unseren Ideen von Umverteilung und Gerechtigkeit eine linke Alternative sind?“, fragt sie etwa. Umverteilung, also: Steuererhöhungen, ist bei vielen Realos verpönt.
Piel gilt als bodenständig und integrativ – die charismatischste Rednerin ist sie allerdings nicht. Sie verantwortete als Spitzenkandidatin eine klare Niederlage bei der Landtagswahl in Niedersachsen im Herbst. Die Grünen sackten von 13,7 Prozent im Jahr 2013 auf 8,7 Prozent ab – und flogen aus der Regierung.
Dass Simone Peter sich zurückzieht, ist indes keine Überraschung. Noch im Sommer hatte sie zwar eine erneute Kandidatur angekündigt. Seit Baerbocks Bewerbung betonte sie aber stets, einer Erneuerung nicht im Wege stehen zu wollen. Peter gilt – auch unter Linksgrünen – als wenig erfolgreiche Parteivorsitzende. „Simone hätte gegen Annalena Baerbock keine Chance gehabt“, sagt eine Grünen-Strategin. Ein anderer: „Sie fiel in die Kategorie: Dead Man Walking.“
Die interne Kritik: Peter habe als Chefin wenige Akzente gesetzt, teils strategisch unklug agiert und sie sei in den Medien vor allem durch vernichtende Porträts aufgefallen, zuletzt im Spiegel. Aufsehen erregte Peter Anfang 2017, als sie die Polizei dafür kritisierte, in der Silvesternacht 1.000 Männer allein wegen ihres angeblich nordafrikanischen Aussehens festgesetzt zu haben. Die Bild-Zeitung diffamierte Peter damals als „grün-fundamentalistisch-realitätsfremde Intensivschwätzerin“. Aus der verunsicherten Ökopartei, die es sich mit dem flüchtlingskritischen Mainstream nicht verscherzen wollte, kam kein Widerspruch – sondern harsche Kritik an der eigenen Chefin.
Andere linke Frauen sollen intern abgewunken haben
Piel und Peter waren nach taz-Informationen vor ihren Entscheidungen in engem Austausch. Einiges spricht dafür, dass Piels Kandidatur Simone Peter einen gesichtswahrenden Rückzug ermöglichte – schließlich hatte sie immer auf die Präsenz des linken Flügels gepocht. Andere linke Frauen aus der Fraktion haben dem Vernehmen nach zuvor intern abgewunken. Weil Piel nun ihren Hut mit Habeck und Baerbock in den Ring wirft, wird es auf dem Parteitag Ende Januar in Hannover zu einer Kampfabstimmung kommen.
Führende linke Grüne begrüßten Anja Piels Kandidatur: „Starkes Signal“, twitterte Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. „Ich freue mich über die Kandidatur von Anja. Denn sie steht für ein klares Profil der Grünen als Partei der Gerechtigkeit“, sagte auch Fraktionschef Anton Hofreiter der Rheinischen Post.
Auch Parteichef Cem Özdemir hat angekündigt, nicht noch einmal für sein Amt zu kandidieren. Özdemir, einer der beliebtesten Politiker in Deutschland, wird in Zukunft ohne wichtige Funktion auskommen müssen. Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sagte er, dass er sich nicht zur Wahl als Fraktionsvorsitzender stellen wolle. „Ich habe erkennbar keine Mehrheit“, sagte Özdemir. „Das muss ich akzeptieren.“ Er hätte gegen Hofreiter antreten müssen, der mit seiner Kofraktionschefin Katrin Göring-Eckardt wieder kandidiert. Hofreiter ist bei den Abgeordneten beliebt, er gilt als integrierend und kann auf die Stimmen der Linken und Zentristen setzen. Özdemir gilt vielen als Hardcore-Realo, der sich zum Fürsprecher der Kretschmann-Linie machte – und so spaltete, statt zu einen.
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