Linken-Politikerin über Studi-Hilfen: „Die 100 Millionen sind Symbolik“
Etwa 700.000 Studierende stehen ohne Nebenjob da. Reicht die angekündigte finanzielle Unterstützung aus? Nicole Gohlke von der Linkspartei ist skeptisch.
taz: Frau Gohlke, Union und SPD haben sich am Donnerstag auf zinslose Darlehen für Studierende im Umfang von 650 Euro und einen 100-Millionen-Euro-Nothilfefonds geeinigt. Ein Lichtblick?
Nicole Gohlke: Ich finde das wirklich ernüchternd. Ich hatte mir mehr erhofft, nachdem die SPD vergangene Sitzungswoche Widerstand angekündigt hat. Die 100 Millionen Euro sind vielmehr Symbolik, damit die SPD irgendwie davonkommt. Dass die Bildungsministerin sich über sämtliche Stimmen aus der Hochschullandschaft hinwegsetzt, ist schockierend.
Welche Stimmen meinen Sie?
Es gibt kaum Akteure, die keine Nothilfen fordern und die nicht auf die finanzielle Notlage vieler Studierender und deren Konsequenzen hinweisen. Ein Studienabbruch ist keine Lappalie. Das sind nicht nur die Linken oder Studierendenverbände, sondern sogar die Junge Union und die Hochschulrektorenkonferenz, die finanzielle Soforthilfe fordern. Das zeigt ja, dass wir es hier mit einem echten Breitenproblem zu tun haben.
Nicole Gohlke, 44, ist Hochschul- und Wissenschaftspolitische Sprecherin der Fraktion die Linke im Bundestag.
Hessen und Saarland haben eigene Nothilfeprogramme für Studierende gestartet, in Hessen war der Nothilfefonds nach zwei Tagen leer.
Ich finde das gut, dass symbolisch überhaupt was getan wird. Aber das Problem ist doch Folgendes: Unser Bildungs- und Hochschulsystem ist chronisch unterfinanziert. Das tritt durch die aktuelle Corona-Krise nun verstärkt hervor. Schon vor der Krise war hier alles auf Kante genäht. Das BAföG erreicht viele Studierende nicht. Für die, die es erreicht, ist es in der Regel nicht existenzsichernd. Wie im Gesundheitssystem trifft man auch im Hochschulwesen auf eine ziemlich marode Struktur, in der jetzt zuerst die durchs Raster fallen, die sich ohnehin nur mit Schwierigkeiten den Platz im System erkämpft haben. Wir stehen vor einer hochschulsystemischen Krise, in der es jetzt nicht nur um finanzielle Soforthilfe geht.
Sondern?
Beispiel Online-Lehre: Eine Umstellung auf Online-Vorlesungen ist nicht von heute auf morgen möglich. Ich habe die letzten Wochen mit Studierendenvertretungen aus der ganzen Republik telefoniert – da gibt es große Sorgen seitens der Studierenden. Wer beispielsweise in Bautzen oder Berchtesgarden wohnt, wo das Netz nicht so toll ausgebaut ist, kann an der Online-Lehre nicht partizipieren. Gleiches gilt für die, die ihre Kinder momentan zuhause betreuen müssen.
Wie könnte diesen Studierenden geholfen werden?
Ein „Kann-Semester“ könnte zumindest den Druck auf die Studierenden lockern. Prüfungen könnten dann beispielsweise freiwillig geschrieben und Abgabefristen nach hinten verschoben werden. Auch diesbezüglich äußert sich das Ministerium nicht. Wir stehen vor Problemen, die wir grundlegend – auch über Corona hinaus – anpacken müssen.
Wie zum Beispiel eine BAföG-Reform? Im vergangenen Jahr wurden mehr als 900 Millionen Fördermittel nicht abgerufen, gleichzeitig beziehen nur 12 Prozent der 2,9 Millionen Studierenden BAföG. Was zeigt uns das?
Die Förderquote der BAföG-Empfänger ist weiter gesunken. Die BAföG-Reform 2019, die auch die SPD sehr gepriesen hat, konnte nicht greifen: Die Bedarfssätze und Freibeträge wurden nicht ausreichend erhöht. Dadurch wurden im Bundeshaushalt mehr Mittel eingestellt, als ausgegeben wurden. Wir schlagen vor, diese Mittel als Sofort-Hilfe für Studierende zu nutzen.
Wie könnte eine gerechtere BAföG-Förderung aussehen?
Wir hantieren beim BAföG die ganze Zeit mit Regelsätzen, die nicht bedarfsdeckend und willkürlich festgesetzt sind. Man müsste sich an einem Existenzminimum orientieren und die Förderung daran anpassen. Warum geht man beim Hartz IV-Satz beispielsweise von Unterkunftskosten aus, die sich an reale Mietkosten annähern, beim BAföG jedoch nicht?
Die Ausgaben erhöhen sich ständig durch Inflation und Preissteigerungen. Wir brauchen ein BAföG, dass dynamisch darauf reagiert und sich nicht an realitätsfernen Regelsätzen orientiert. Leider waren Hochschulthemen jedoch nie die Top-Themen in der Diskussion. Vielleicht wird sich das jetzt ändern. Ich bin beeindruckt, mit welcher Vehemenz sich viele Hochschulakteure momentan zu Wort melden.
Wie kommt es, dass die Belange Studierender so wenig Gehör finden? Es hat ja schon lange gedauert, bis die Ministerin sich überhaupt zur Situation Studierender in der aktuellen Corona-Krise geäußert hat.
Ich habe das Gefühl, dass sich dadurch ein Diskurs abbildet, der nicht unbedingt neu ist. In den letzten Jahren gab es eine Art Akademiker-Bashing. Ganz offensiv formuliert von der extremen Rechten, als eine Wissenschafts- und Akademikerfeindschaft. Studierende und Wissenschaftler werden in solchen Diskursen oft als verzogene, urbane Städter dargestellt. An ganz vielen Ebenen geht diese Debatte aber fehl. Studieren ist mittlerweile der Hauptausbildungsweg. Über 60 Prozent eines Jahrgangs fangen ein Studium an. Das liegt natürlich auch daran, dass sich viele dadurch mehr Karriereoptionen und ein halbwegs sicheres Einkommen erhoffen. Hinzu kommt aber auch, dass die Berufswelt immer weiter akademisiert wird – von der Hebamme bis zum Mechatroniker. Die Wirtschaft fragt das auch nach.
Studieren ist mittlerweile keine elitäre Angelegenheit mehr wie vor 150 Jahren, sondern eine Breitengeschichte. Natürlich tun sich Kinder von nicht akademischen Eltern schwerer damit, reinzukommen und einen Abschluss zu machen. Aber klar ist doch: Wenn ich möchte, dass jeder studieren kann und dass soziale Gründe dies nicht verhindern, dann muss ich Instrumente finden, wie ich das ermögliche – vor allem in der derzeitigen Corona-Krise.
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