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Linken-Politikerin über Soziale Berufe„Wie unter einem Brennglas“

Probleme wie der Pflegenotstand können durch Corona nicht mehr länger ignoriert werden, sagt Amira Mohamed Ali. Es sei Zeit für höhere Löhne.

„Hier geht es konkret um Menschenleben.“ Amira Mohamed Ali, Fraktionsvorsitzende der Linken Foto: Christian Thiel
Anna Lehmann
Interview von Anna Lehmann

taz: Frau Mohamed Ali, ist eine Debatte über die Rückkehr ins normale Leben verfrüht oder ist es sinnvoll schon mal darüber nachzudenken, wie es in den Alltag zurückgehen könnte?

Amira Mohamed Ali: Sinn der Maßnahmen ist, die Infektionszahlen zu drücken, damit die Krankenhäuser in der Lage sind, die schwer Erkrankten zu behandeln und das Gesundheitswesen nicht kollabiert. Darüber nachzudenken, nach welchen Parametern man nach Ostern die Einschränkungen zurückfahren kann, halte ich nicht für verfrüht. Aber entscheidend ist jetzt, dass die Maßnahmen ihre Wirkung entfalten. Niemandem ist gedient, wenn sie zu früh gelockert werden. Wir müssen jetzt erst mal abwarten und nach Ostern schauen, was es was gebracht hat und die Lage neu bewerten.

Und wenn Schulschließungen und Kontaktverbote zu wenig gebracht haben?

Es ist doch völlig klar, dass man das öffentliche Leben nicht dauerhaft so stark einschränken kann. Darum denke ich auch, dass es wichtig ist, jetzt schon darüber nachzudenken, wie das öffentliche Leben nach dem 20. April wieder aufgenommen werden kann. Dazu muss man vor allem jetzt klären, wie ausreichend Schutzkleidung und mehr Testmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden können.

Sollte die Lage nach Ostern dann ausschließlich nach medizinischen oder auch nach sozialen oder wirtschaftlichen Aspekten bewertet werden?

Aktuell geht es darum, dass die Infektionsraten gesenkt werden. Hier geht es konkret um Menschenleben. Wir müssen unbedingt eine Überlastung des Gesundheitswesens vermeiden, damit so viele Menschen gerettet werden können, wie möglich. Das muss der Fokus sein. Voraussetzung für eine Lockerung der Maßnahmen ist die Senkung der Fallzahlen.

Gerade für Familien, die jetzt schon Hartz IV beziehen, ist die derzeitige Situation hart, weil sie von ihrem Regelsatz jetzt auch noch Mittagessen für dieKinder kochen und Arbeitsblätter ausdrucken müssen. Warum haben Sie als Opposition dem Sozialpaket der Regierung dennoch zugestimmt und tragen auch die Einschränkungen mit?

Wir haben dem Regierungspaket vergangene Woche weitgehend zugestimmt, weil die Maßnahmen, die eingeleitet worden sind, viele wichtige und richtige Dinge enthalten, wie z.B. die Erleichterungen beim Zugang zu Hartz IV, die Aussetzung von Mietkündigungen und Stromsperren.

Aber das reicht nicht. Gerade für Menschen, die jetzt schon Hartz IV beziehen, entstehen Mehrkosten, das haben Sie gerade beschrieben. Gleichzeitig fallen Zuverdienstmöglichkeiten weg. Und andere Hilfsangebote, auf die viele Menschen angewiesen waren, wie die Tafeln, mussten schließen. Wir fordern daher dringend Nachbesserungen am Paket, wie die sofortige Aufstockung in Höhe von 200 Euro für Menschen, die Arbeitslosengeld oder Grundsicherung beziehen.

Die Linkspartei hat schon immer darauf hingewiesen, dass der Hartz-IV-Regelsatz zu niedrig ist. Auch den Pflegenotstand hat sie immer wieder angeprangert. Fühlen Sie sich nun in der Krise bestätigt: Seht her, wir hatten recht?

Es ist schon krass, wie Probleme, auf die wir immer hingewiesen haben, jetzt wie unter einem Brennglas vergrößert werden. Genugtuung kann ich angesichts des Ernstes der Lage darüber nicht empfinden, aber ich fühle mich in meiner Sichtweise bestätigt. Jetzt werden die Verwerfungen in diesem schlecht ausgestatteten Sozialstaat und dem kaputt gesparten Gesundheitssystem noch deutlicher sichtbar.

Derzeit sieht es doch so aus, als wäre unser Gesundheitswesen besser als das anderer Länder?

Wir sehen an Ländern wie Italien, was passiert, wenn das Gesundheitswesen totgespart wird. Diese Entwicklung gibt es auch bei uns. In den vergangenen Jahren sind viele Krankenhäuser geschlossen worden, und die Arbeitsbelastung im Gesundheitswesen ist enorm gestiegen. Dort arbeiten Menschen schon lange am Limit. Erst im letzten Jahr forderte die Bertelsmannstiftung die Schließung weiterer 600 Krankenhäuser.

Wir können von Glück reden, dass diese Forderung noch nicht umgesetzt worden war. Dass es derzeit bei uns glücklicherweise noch geringe Todesraten gibt, ist aber kein Grund zur Entwarnung, da die Fallzahlen weiter steigen und die Krankenhäuser auch bei uns schnell an ihre Kapazitätsgrenzen kommen können. Umso wichtiger ist es, jetzt dafür zu sorgen, dass zusätzliche Beatmungsgeräte produziert und Intensivbettenkapazitäten geschaffen werden.

Kann Corona zu einer Trendwende führen, etwa zur besseren Bezahlung von Pflegekräften oder zu einem weniger bürokratischen Bezug von Grundsicherung?

Das ändert sich nicht von selbst und nicht automatisch. Das Sozialpaket der Bundesregierung ist befristet. Der vereinfachte Zugang zur Grundsicherung für Menschen, die darauf angewiesen sind, ist vorläufig und kein grundlegender Richtungswechsel. Ein grundsätzliches Umdenken wäre aber wünschenswert. Und ich denke, jetzt ist die Chance für ein Umdenken in der Bevölkerung da.

Im Interview: Amira Mohamed Ali

40, sitzt seit 2017 für die Linke im Bundestag. Im November 2019 wurde sie Fraktionsvorsitzende ihrer Partei. Sie teilt sich den Posten mit Dietmar Bartsch.

Hat das nicht schon eingesetzt? Alle klatschen doch fortwährend Beifall für das medizinische Personal, für VerkäuferInnen und alle, die als „systemrelevant“ gelten.

Derzeit empfinden ganz viele Menschen zu Recht Dankbarkeit und äußern sie auch. Aber das reicht nicht. Es ist essentiell wichtig, dass die Menschen in den systemrelevanten Berufen, die Pflegerinnen, die Verkäufer, die Kraftfahrerinnen, alle, die jetzt extrem viel leisten, auch finanziell besser gestellt werden und sofort einen Pandemiezuschlag in Höhe von 500 Euro im Monat erhalten.

Ich höre immer wieder von Pflegerinnen, der Dank ist ja schön, aber das bringt mir nicht viel. Dank darf sich nicht nur in Worten äußern. Und was nicht passieren darf, ist dass die Wichtigkeit dieser Berufe wieder vergessen wird, sobald die Krise vorüber ist. Eine Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge muss für alle Beschäftigten in diesen Branchen jetzt ganz oben auf die Tagesordnung.

Glauben Sie, dass diese Berufe nach der Krise tatsächlich besser bezahlt werden?

Ich glaube, dass jetzt die Möglichkeit besteht, hier etwas zu verbessern. Denn in der jetzigen Situation wird allen Menschen tatsächlich bewusst, wie wichtig diese Berufe sind. Und es wäre dann auch etwas Positives, was man der Krise abgewinnen kann, wenn sie dazu führte, dass Kürzungen im Gesundheitssystem zurückgenommen werden.

Adidas, Deichmann und andere Großunternehmen haben angekündigt, während der Ladenschließungen keine Miete für ihre Läden zu zahlen. Muss das Gesetz, das Kündigungen wegen coronabedingter Mietschulden verbietet, nachgebessert werden?

Das Gesetz sagt, dass Mietzahlungen gestundet werden können, wenn coronabedingt die Mietzahlung nicht möglich ist.

Eben, Adidas sagt, man müsse jetzt Kredite aufnehmen.

Hier zeigt sich doch mal wieder, dass es großen Konzernen nicht um Solidarität und Gemeinschaft geht, sondern darum, alles abzugreifen, was irgendwie geht. Adidas ist, glaube ich, vorsichtig zurückgerudert, aber es ist doch völlig klar, dass dieses Unternehmen, die Krise überstehen wird. Wenn das Gesetz die Möglichkeit offen lässt, dass es durch finanzstarke Konzerne missbraucht wird, muss diese Lücke geschlossen werden.

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6 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • "systemrelevant" philosophisch zu betrachten ist gerade jetzt angebracht.

    Und das ist eben nicht "sophistisch"!

    Im ursprünglichen Sinne ist "systemrelevant" alles, was der Aufrechterhaltung des bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftssystem "BRD" dient.

    Leider schließt das auch die "Fehlentwicklungen" mit ein. Und hier wird es dann basisphilosophisch.

    Und durch die Krisendefinitionen aus 2007-2010 (Finanzkrise), in der die Banken als systemrelevant eingestuft wurden ist der Begriff inzwischen inflationär in Richtung kapitalistisches System gewandert und praktisch von jedem Unternehmen, das regional oder lokal von irgendeiner Bedeutung ist, beansprucht.

    Was man vom ursprünglichen Begriff gerade als Journalist sorgfältig seziert einsetzen sollte, steht:

    a) im Grundgesetz



    b) im Katastrophenschutzplan

    und sollte (m.E.!) immer in Verbindung stehen mit Daseinsvorsorge und Fürsorgepflicht des Staates.

  • Ich denke auch, dass der Begriff "systemrelevant" nicht wirklich weiter hilft. Besser wäre es, sich die traditionell unterbezahlten Berufe anzusehen. Und da stoßen wir in erster Linie auf zahlreiche Dienstleistungen, die man sicherlich etwas danach unterscheiden kann, in welchem Maße sie existentiell sind wie z.B. Pfleger oder Krankenschwestern, Bedienstete im ÖPNV oder der Bahn. Und natürlich auch Menschen, die mit der Versorgung von Grundbedürfnissen zu tun haben oder der Müllbeseitigung.

    Warum z.B. Menschen aus dem Werbe- und Marketingbereich oder Versicherungsvertreter mehr verdienen als z.B. eine Pflegerin in einem Altenheim, ist rational kaum begründbar. Aber auch karitative Einrichtungen, die sich oft neue "Glaspaläste" leisten, könnten ihre Gelder besser dort einsetzen, wo die harte Arbeit gemacht wird. Das Aufblähen von Verwaltungen ist sicherlich keine gute Idee.

  • Wenn selbst die Linke von systemrelevanten Berufen spricht "die Pflegerinnen, die Verkäufer, die Kraftfahrerinnen,", dann wird es Zeit über systemirrelevante Berufe zu sprechen. Wenn die Erstern den Lohn erhöht bekommen soll, was ist dann mit Letztern? Was ist die Definiton für Systemirrelevanz? Handwerker und produzierende Berufe? Also, die die weiter arbeiten, solange ihnen nicht das Grundmaterial oder die Leute ausgehen? Die die weiter Steuern zahlen? Oder Künstler und Intellektuelle?

    Der Begriffe sollte schnellstmöglich vergessen werden. Durch die Pandemie erhöht belastete Berufe sollten monetär entlastet werden.

    • @fly:

      Sie reden so, als sei vorher alles schick gewesen. Dabei war vorher schon klar, dass viele Menschen für ihre Arbeit (viel zu) schlecht bezahlt werden.

      Dass dieser Missstand erst jetzt zum Thema wird, das ist der Skandal.

      Und es hilft wenig, sich hinter Sophistereien zu verstecken, was denn dann "systemirrelevante Berufe" seien.

    • @fly:

      Systemrelevanz ist tatsächlich nicht das was deiese Berufsgruppen vom Rest der Arbeitenden unterscheidet. Es ist die Tatsache, dass wenn ihre Aufgaben nicht mehr erfüllt werden potentiell massiv viele Menschen sterben, oder zumindest unterversorgt werden. Dass quasi jeder Job eine gewisse Relevanz für das System hat sieht man ja schon daran, dass die Schließung von Restaurants, stationärem Einzelhandel und Kulturellen Einrichtungen ausreicht um das System zu Fall zu bringen. Ohne massive Staatliche Eingriffe -was der Neoliberalismus sich normalerweise verbittet- wäre das wirtschaftssystem schon jetzt am Ende.

      • @Lev Bronštejn:

        Das System fällt ganz bestimmt nicht zusammen, wenn für eine Zeit "Gaststätten und Restaurants" schließen, die ohnehin nur von Ausbeutung der Mitarbeiter leben und im Durchschnitt alle 3,5 Jahre den Betreiber wechseln. Hier treibt auch das Immobilien-"system" sein übelstes Unwesen.