Linke in Venezuela: Chavisten ohne Chávez
Venezuelas Regierung agiert zunehmend wirtschaftsliberal. Basisgruppen haben da schlechte Karten. Doch einige halten dagegen – um ihre Revolution zu retten.
S alsa-Musik dröhnt aus den Boxen. Ein paar Leute tanzen, andere kochen in einem großen Topf Gemüsesuppe. Direkt neben den Lautsprechern stehen unter einem Zeltdach mehrere Tische. Wer seinen Ausweis vorzeigt und einen Fingerabdruck abgibt, erhält hier einen Wahlzettel, gibt hinter einem Sichtschutz eine Stimme ab und wirft sie in die Urne.
Das Barrio Las Casitas in der venezolanischen Hauptstadt Caracas wählt Ende Juni die Sprecher*innen des Kommunalen Rates. Diese basisdemokratische Entscheidungsinstanz galt einmal als Kernstück linker Politik unter dem 2013 verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez. Die Comunidad vor Ort sollte über die Verwendung finanzieller Mittel entscheiden, die der Staat bereitstellt. Mehrere Räte konnten sich zu einer Comuna zusammenschließen.
Doch in den vergangenen Krisenjahren ließ die Zentralregierung keine Erneuerung der Sprecher*innen zu. Stattdessen setzte die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas handverlesene Kandidat*innen durch. „Die Regierung wollte nur noch, dass die Kommunalen Räte sie verteidigen“, sagt Armando Mogollón von der Wahlkommission des Rates. „Chávez’ Idee war aber, dass wir selbst über unsere Bedürfnisse entscheiden.“
Das Stadtviertel Las Casitas befindet sich am Ende einer Straße, die sich den Hügel hinauf schlängelt. Je höher ein Viertel liegt, desto ärmer ist dort in der Regel die Lage. Las Casitas liegt ganz oben. Gegründet wurde die Siedlung Ende der 1970er Jahre, nachdem zahlreiche Menschen infolge von Überschwemmungen ihre Bleibe verloren hatten. Die Hütten aus Wellblech und Pappe aus der Anfangszeit wichen bald schon den typischen unverputzten Backsteinhäuschen. Irgendwann kamen Wasser und Strom hinzu.
Am Ende der Straße kicken sich ein paar Jungs einen Fußball zu. Hinter ihnen prangen an einem breiten Gebäude noch immer die Schilder des Mercal-Supermarkts, der hier bis vor ein paar Jahren subventionierte Lebensmittel verkaufte. Heute steht das Gebäude leer. Ansonsten sind kaum junge Menschen zu sehen. Viele haben im Zuge der schweren Wirtschaftskrise in den vergangenen Jahren das Land verlassen und arbeiten im Ausland in prekären Jobs, etwa als Fahrer*innen oder Putzkräfte.
Zurück zur Basis-Demokratie
Armando Mogollón kann die Beweggründe der Ausgewanderten nur teilweise verstehen. „Manchen ist es gut ergangen, aber einige kommen enttäuscht zurück, weil die Wirklichkeit nicht dem entspricht, was sie erwartet haben“, berichtet er. Alle die zurückkehren wollen, seien jederzeit willkommen. „Dies war immer schon eine kämpferische Comunidad.Wir haben wir uns stetes dafür eingesetzt, besser leben zu können, und die bolivarianische Revolution von Beginn an unterstützt.“
Die Wahl des Kommunalen Rates ist die erste seit Jahren in Caracas, andere Viertel wollen dem Beispiel folgen. Ob sich der ursprüngliche Geist der Räte durchsetzen wird, ist offen. Die Regierung unter Nicolás Maduro sitzt mittlerweile wieder fest im Sattel. Der Versuch der Machtübernahme durch die konservative Opposition, die mit Unterstützung der US-Regierung im Januar 2019 den damaligen Parlamentsvorsitzenden Juan Guaidó als Interimspräsidenten installieren wollte, gilt schon lange als gescheitert. Doch die einstigen Ideale des Chavismus haben es schwer in einem Land, in dem es oft nur noch um den Machterhalt geht.
„Die eigentliche Bedeutung des Ansatzes hat der regierende Chavismus nie verstanden“, sagt Reinaldo Iturriza über die Kommunalen Räte. Weder ein Präsident noch die Minister*innen oder Bürgermeister könnten überall präsent sein, die Bevölkerung hingegen schon. „Die Zentralregierung hat die Verpflichtung, dies zu unterstützten, jedoch nicht das Recht, die Selbstregierung zu vereinnahmen.“ Iturriza weiß, wovon er spricht. Kurz nach Chávez’ Tod war er als Minister knapp anderthalb Jahre zuständig für Comunas und anschließend für Kultur, bevor er die Regierung im Jahr 2016 verließ.
Die Furcht vor der Basis
Der Autor und Basisaktivist sitzt in einem kleinen Büro im 20. Stock eines Gebäudes am Parque Central im Zentrum von Caracas. Der Name Park war mangels Grünflächen schon in den 1970er Jahren, als der Hochhauskomplex eingeweiht wurde, eine Farce. Heute lassen die einst höchsten Wolkenkratzer Lateinamerikas nur noch mit viel Fantasie erahnen, dass dies einmal als futuristisches Bauprojekt galt. „In der Praxis gab es immer Versuche der Vereinnahmung. Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sahen die Kommunalen Räte als Konkurrenz, die ihre eigenen Ämter bedroht“, erklärt Iturriza. In einzelnen Fällen habe es solide staatliche Unterstützung gegeben, in anderen hätten die Institutionen permanent gebremst.
„Schon während meiner Zeit als Minister gab es Stimmen, die sagten, in den Räten konzentriere sich die Opposition. Als könnte der Antichavismus in einem Territorium, in dem der Chavismus insgesamt eine deutliche Mehrheit hat, den Kommunalen Rat kontrollieren!“ Ab 2016 setzte die Regierung die Wahlen der Sprecher*innen aus, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Erst dieses Jahr lässt sie die Wahlen plötzlich wieder zu. „Es ist nicht klar, welche Erwägungen genau dahinterstecken. Aber auch innerhalb der Institutionen nehmen einzelne Personen das Thema noch immer ernst“, sagt Iturriza.
Zudem gebe es einige gut funktionierende Projekte wie die ländliche Comuna El Maizal, die Landwirtschaft betreibt und sich weigerte, ihre Sprecher*innen von oben bestimmen zu lassen. „Doch derartige Erfahrungen haben jeweils mit der spezifischen politischen Situation vor Ort zu tun, die von der Partei nicht gutgeheißen wird.“
Genau diese Projekte seien es aber, die auch außerhalb Venezuelas wahrgenommen würden, sagt Iturriza. „Dort, wo die Selbstregierung schwächer ausgeprägt war, haben sie von oben ihre Strukturen übergestülpt. Häufig waren die Strukturen aber nur deshalb so schwach, weil der Staat in den Jahren zuvor zu wenig Unterstützung geleistet hat.“
Reinaldo Iturriza, ehemaliger Minister
Komplett mit der Regierung zu brechen sei dennoch nicht zielführend, da es unter einer rechten Regierung gar keine Spielräume mehr gebe. „Der Kampf geht darum, dass Kommunale Räte und Comunas wieder Teil der staatlichen Politik werden und die nötige Unterstützung erhalten“, meint Iturriza. „Es ist kein Widerspruch, sich als Chavist zu verstehen und der Regierung gegenüber enorm kritisch zu sein. Aber sich in eine unkritische Person zu verwandeln, die nichts gegen die Regierungspolitik sagt, das ist keine Option.“
Die Schwächung basischavistischer Ansätze ist auch gegenüber dem Parque Central zu spüren. Auf der südlichen Seite der Avenida Lecuna beginnt das Viertel San Agustín del Sur. Es entstand schon 1936 durch den Zuzug überwiegend afrovenzolanischer Binnenmigrant*innen aus den Küstenregionen des angrenzenden Bundesstaates Miranda. Heute ist es vor allem für eine reiche kulturelle Tradition bekannt. Von der Metrostation des Parque Central aus schweben Gondeln den Hügel hinauf, über die typischen Backsteinhäuschen hinweg. Die zweite Station mündet direkt in ein fünfstöckiges Haus, das ursprünglich als kulturelles Zentrum konzipiert worden war.
In einem Nebengebäude gab es bis vor einigen Jahren einen staatlichen Mercal-Supermarkt. Genauso wie ein Computerzentrum steht er mittlerweile leer. Die meisten Räumlichkeiten in dem Gebäude sind an Privatleute gegangen. Im vierten Stock verfügt die Kooperative Unidos San Agustín Convive über einen kleinen Versammlungsraum, der einige Nähmaschinen beherbergt. Aus dem Fenster hat man einen weiten Blick über das Viertel. Die Gondeln der Seilbahn schweben lautlos fast auf Höhe des Raumes. Von unten mischen sich Motorenlärm und Kindergeschrei.
Während der schweren Wirtschafts- und Versorgungskrise der letzten Jahre organisierten die Frauen der Kooperative im Rahmen der nichtstaatlichen Initiative Plan Pueblo a Pueblo direkte Lieferungen von Kleinbauern an die Bewohner*innen und Schulen in San Agustín del Sur. „Innerhalb kürzester Zeit rutschte Venezuela von einem Land mit hoher menschlicher Entwicklung in die Verarmung ab. Alle haben an Gewicht verloren“, erzählt Martha Lía Grajales von der linken Menschenrechtsorganisation Surgentes, die 2017 die Gründung der Kooperative mit angeschoben hat. „ Zuerst haben wir aufgehört, Dinge wie Kleidung zu kaufen, dann täglich drei vollwertige Mahlzeiten einzunehmen.“
Mit dem Einbruch der Erdölpreise Ende 2014 fehlte der Regierung das Geld für ihre Investitionen, begonnene Bauvorhaben, Lebensmittelimporte und Sozialprogramme. Vor allem 2016 und 2017 prägten Hyperinflation, Versorgungsmängel, lange Schlangen und ein blühender Schwarzmarkt mit überteuerten Waren das Land. Die US-Sanktionen verschlimmerten die Lage insbesondere der ärmeren Bevölkerung.
Kooperative aus der Not
In dieser Phase ersetze die Regierung Maduro zunächst den kollabierten Verkauf subventionierter Lebensmittel durch direkte Zuwendungen wie Lebensmittelkisten mit Grundnahrungsmitteln und unregelmäßige Bonuszahlungen. „Wir haben uns die Frage gestellt, was wir als organisierte Basis dagegen tun können, dass es immer weniger Lebensmittel gibt, die immer teurer werden und wir wirklich Hunger haben“, sagt Grajales.
Durch den Verzicht auf Zwischenhändler*innen konnten die Preise niedrig gehalten und die Versorgung im Viertel verbessert werden. Gleichzeitig setzte die Arbeit der Kooperative einen Mobilisierungsprozess in der Bevölkerung in Gang, entschieden wurde alles auf offenen Versammlungen. Nur wer aktiv mitarbeitete hatte das Recht auf einen vollen Ernteertrag, für alle anderen blieben die Überschüsse. Kam weniger an als vereinbart, wurde die Menge aufgeteilt.
Das Vorgehen brachte die Bedürfnisse von Stadtbewohner*innen und Landarbeitern zusammen. „Wir haben damit nicht nur etwas gegen das Ernährungsproblem getan, sondern auch die kleinbäuerliche Produktion und die Organisationsprozesse an der Basis gestärkt.“ Die Leute seien nicht als Empfänger*innen von Hilfen, sondern politische Subjekte aufgetreten.
Es ist ein klassisch chavistisches Projekt, das von der Selbstorganisierung im Stadtviertel ausgeht. Doch die heutige Regierung betrachtet unabhängige Basisprojekte häufig mit Argwohn.
Regierung hofiert Privatwirtschaft
Während der Coronapandemie und aufgrund der zwischenzeitlichen Benzinknappheit kam die Lebensmittelverteilung der Kooperative weitgehend zum Erliegen. Derzeit kommen nur noch ab und zu Lieferungen an den Schulen an. Die Kooperative konzentriert sich darauf, eine Nähwerkstatt aufzubauen. Die offene Freifläche im Erdgeschoss des kulturellen Zentrums, auf der früher die Verteilung der Lebensmittel stattfand, ist einem privaten Parkplatz gewichen.
„Im Moment arbeiten hier in der Kooperative sechs Personen fest, alle aus Überzeugung, es gibt kein Geld dafür. Die Regierung ist jedoch nicht mehr an Kooperativen interessiert, sondern hofiert die profitorientierte Privatwirtschaft“, beklagt sich Mireya Peña, eine der Frauen aus der Kooperative. Unter dem früheren Präsidenten Hugo Chávez hingegen habe es für alternative Unternehmensformen massive Förderungen gegeben. Allerdings hätten viele Menschen das Geld vom Staat genommen, dann aber nichts daraus gemacht. „Derzeit ist es für uns nicht möglich, uns zu registrieren. Sie sagen uns, dass wir ein Kleinunternehmen gründen sollen. Aber das sind wir nicht“, sagt Mireya Peña.
Als die Wirtschaftskrise das halbe Land lahmlegte und die konservative Opposition die Macht zu übernehmen trachtete, entschied sich die Regierung dafür, die Wirtschaft ohne öffentliche Debatte zu liberalisieren. Dies sei eine „taktischen Maßnahme“, die angesichts des Wirtschaftskrieges und der US-Sanktionen notwendig sei, hieß es. Am Ziel des Sozialismus halte man fest.
Unter Hinweis auf die Sanktionen wird häufig geheim gehalten, wer von einer Privatisierung profitiert und was der Staat dadurch einnimmt. Die Reformen schafften handfeste wirtschaftliche Interessen, vor allem im Umfeld der Regierung. Es ist daher unwahrscheinlich, dass sich die intransparenten Privatisierungen zeitnah wieder zurückdrehen lassen.
„Es gibt eindeutig einen politischen Richtungswechsel. Das zeigt sich besonders darin, dass der Staat nicht mehr die kollektive Organisierung propagiert, sondern individuelles Unternehmertum“, sagt Martha Lía Grajales. „Chávez hingegen wollte produktive Einheiten, die eine Alternative zu kapitalistischen Logiken darstellten.“
Die Wirtschaft erholt sich – ein wenig
Der neue Kurs führte zuletzt zu einer leichten Erholung der Wirtschaft. Im Februar ließ das Land die mehrjährige Hyperinflation hinter sich, mit 140 Prozent ist die jährliche Teuerungsrate jedoch noch immer eminent hoch. Dieses Jahr könnte Venezuela ein zweistelliges Wirtschaftswachstum erzielen. Die Läden sind voll, gezahlt wird in US-Dollar.
Sogenannte bodegones bieten alle erdenklichen Waren an. Die zoll- und steuerbefreiten Importläden verkaufen iberischen Schinken, norwegischen Lachs, schottischen Whiskey oder Luxuskleidung und Elektronikprodukte. Zielgruppe ist eine kleine, kaufkräftige Klientel aus der Mittel- und Oberschicht. Nach Jahren der Knappheit erzeugen die bodegones den Endruck einer wirtschaftlichen Erholung, obwohl sich die breite Masse die angebotenen Produkte gar nicht leisten kann. In Sonderwirtschaftszonen sollen Investor*innen zukünftig zudem zahlreiche Vergünstigungen erhalten. Und infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine verhandelt die US-Regierung plötzlich mit der Regierung von Nicolás Maduro – die sie offiziell gar nicht anerkennt – über eine mögliche Wiederaufnahme von Erdöllieferungen.
Da die venezolanische Wirtschaft seit 2013 aber um etwa 80 Prozent geschrumpft ist, bedeutet etwa ein Wachstum von zehn Prozent gerade einmal die Wiedererlangung von zwei Prozent des Ausgangswertes.
Die Stabilisierung hat einen hohen Preis. Die soziale Ungleichheit hat deutlich zugenommen. Die Preise sind nach wie vor extrem hoch, der Mindestlohn beträgt trotz 1.700-prozentiger Erhöhung im März dieses Jahres gerade einmal 30 US-Dollar – pro Monat.
Martha Lía Grajales und andere Aktivist*innen wollen Chávez’ Erbe jedoch nicht aufgeben. Sie sehen sich als Teil eines aktiven, wenn auch politisch an den Rand gedrängten Chavismus von unten. „Auch wenn es ein schwieriger Moment ist, sind noch immer Debatten im Gange. Es ist noch nicht alles verloren“, sagt sie. „Daher ist es wichtig, dass Kooperativen und andere Projekte den Inhalt eines linken Prozesses am Leben erhalten.“ Momentan stehen sie damit weitgehend allein da.
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