Linke Sevim Dağdelen zur Türkei: „Erdoğan steht für eine Minderheit“
Sevim Dağdelen ist gerade zur Vorsitzenden der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe gewählt worden. Sie gilt als harte Kritikerin Erdoğans.
taz: Frau Dagdelen, Sie, eine der schärfsten Kritikerinnen des türkischen Präsidenten im Bundestag, sind zur Vorsitzenden der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe gewählt worden. Trotzdem oder deswegen?
Sevim Dağdelen: Ich bin seit 2005 Mitglied der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe und jetzt von meiner Fraktion einstimmig zur Vorsitzenden gewählt worden. Kompetenz und Expertise müssen mit dem Engagement für eine Neuausrichtung der deutschen Türkeipolitik vereinbar sein. Die deutsch-türkischen Beziehungen liegen mir seit Jahren am Herzen. Gerade in Zeiten, in denen Erdoğan und seine AKP versuchen, die Türkei in eine islamistische Diktatur umzubauen, ist es wichtig, die parlamentarischen Kontakte zu intensivieren. Dafür stehe ich ein.
Sie reisen seit einigen Jahren nicht in die Türkei, weil die reale Gefahr besteht, dass Sie dort festgenommen werden. Wie kann also Dialog künftig stattfinden?
Seit der Verabschiedung der Resolution im Bundestag zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern hat es große Zerwürfnisse gegeben. Die Kontakte sind seitens der türkischen Parlamentariergruppe seit 2016 boykottiert worden. Michelle Müntefering, die bisherige Leiterin unserer Parlamentariergruppe, wurde als vermeintliche Terrorunterstützerin auf einer Liste des türkischen Geheimdienstes geführt. Mir ist wichtig, die Beziehungen zwischen Bundestag und Türkischer Nationalversammlung wieder zu verbessern. Dazu gehören natürlich auch gegenseitige Besuche. Dabei muss die Sicherheit aller Delegationsteilnehmer garantiert werden. Ich bin optimistisch, dass sich die Türkei hier bewegt.
Planen Sie selbst Reisen in die Türkei?
Selbstverständlich werde ich als Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe Reisen in die Türkei tätigen. Ich werbe für den direkten Austausch.
Die 42-jährige gehört dem linken Flügel der Linkspartei an und sitzt seit 2005 im Bundestag. Als stellvertretende Fraktionschefin ist sie für Außen- und Sicherheitspolitik zuständig. Die Eltern Dağdelens sind aus der Türkei eingewandert, sie selbst ist in Duisburg geboren und aufgewachsen. Seit der umstrittenen Armenien-Resolution des Bundestags 2016 wird sie von türkischer Seite heftig angefeindet und ist deswegen auch nicht mehr in die Türkei gereist.
Es gibt also nach wie vor Gespräche?
Es gab trotz des Boykotts immer wieder Besuche von Journalistinnen und Journalisten, von Kulturschaffenden aber auch von Abgeordneten der HDP oder der Sozialdemokraten, die uns Mitglieder der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe in Deutschland besucht haben.
Wen möchten Sie künftig in der Türkei treffen?
Die Türkei steht nicht für Erdoğan und Erdoğan steht nur für eine Minderheit der Bevölkerung in der Türkei. Ich möchte Gespräche führen auch mit Abgeordneten der Sozialdemokraten, der HDP und mit allen, die für die andere Türkei stehen. Der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, hat es so formuliert: Mit meiner Wahl zur Vorsitzenden der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe sei eine Chance gegeben, auch mit der anderen Türkei Freundschaft zu pflegen. Bisher gab es ja vor allem Kontakte zur AKP.
Am 24.Juni finden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei statt. Stehen Erdoğan und die AKP als Gewinner schon fest?
Nein, laut unabhängigen Umfragen liegt das islamistisch-nationalistische Wahlbündnis aus AKP und MHP derzeit bei 43 Prozent. Insofern halte ich die Wahl noch nicht für entschieden. Es kann sein, dass Erdoğan trotz aller Manipulationen, und dazu gehört der vorgezogene Wahltermin, die Wahl verliert. Das wird eine spannende Zeit und es ist wichtig, jetzt die Kontakte zu verstärken.
Wie sehr stehen die anderen Mitglieder der Parlamentariergruppe hinter dieser Idee?
Noch hat sich die Gruppe nicht konstituiert, bis zum 30. April können sich interessierte Abgeordnete anmelden. Aber aus meiner Erfahrung haben wir seit Jahren fraktionsübergreifend eng und meist konsensual zusammengearbeitet. Wir haben unter anderem auch das Schutzprogramm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ für verfolgte Abgeordnete in der Türkei auf den Weg gebracht. Dass wir den Austausch auch mit diesen Abgeordneten suchen, ist, vermutlich, im Interesse aller Abgeordneten unserer Gruppe. Auch dass wir als Parlamentarier einen Kontrast zu Regierungslinie bilden. Den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in Afrin gegen die Kurden hat die Regierung beispielsweise nicht verurteilt, im Gegensatz zu allen Fraktionen im Bundestag.
Haben sich auch AfD-Abgeordnete angemeldet und werden Sie mit Ihnen zusammen arbeiten?
Eine Übersicht wird nach dem Anmeldeschluss erstellt. Jedes Mitglied des Deutschen Bundestags hat das Recht, in drei Parlamentariergruppen mitzuarbeiten.
Wenn Erdoğan die Wahl gewinnt, treten die Verfassungsänderungen in Kraft, die die Macht des Präsidenten stärken und das Parlament schwächen. Wie könnte das den Austausch zwischen Bundestag und türkischem Parlament beeinflussen?
Wenn Präsident Erdoğan wiedergewählt werden sollte – auch mit Unterstützung der Bundesregierung und der EU durch die millionenschweren Finanz- und Wirtschaftshilfen – dann gelten die massiven Exekutivbefugnisse. Das ist vor allem für die Menschen in der Türkei eine sehr schwierige Situation. Deshalb muss alles getan werden, um die andere Türkei, die es auch gibt und die die Mehrheit darstellt, zu stärken und ihr mehr Gehör zu verschaffen.
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