piwik no script img

Lemberg als FluchtortEine Stadt zum kurz Durchatmen

Bis Kriegsbeginn war das westukrainische Lemberg ein Touristenmagnet. Jetzt ist das Zentrum leer, die Stadt aber ist voller Flüchtlinge.

Abschied am Bahnhof Lemberg Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters

A m 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Mein Großvater, Soldat der polnischen Armee, Juri Maksimowitsch Averchuk, stand auf dem Bahnhof in Lemberg (heute ukrainisch Lwiw). Schon bald darauf trafen dort Flüchtlinge aus dem Westen ein, die vor der Armee des nationalsozialistischen Deutschlands geflohen waren. Wenn ich meinem Großvater zuhörte, wie er von dieser Zeit erzählte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass es in Lemberg wieder Krieg geben würde.

Война и мир – дневник

Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.

Aber jetzt sehe ich schon Züge mit Flüchtlingen. Nur kommen sie dieses Mal aus östlicher Richtung. Aus Kiew, Charkiw und anderen Städten, die den Bombardierungen der russischen „Befreier“ ausgeliefert sind. Für viele Neuankömmlinge war Lemberg früher die Stadt des Jazz, der kleinen Kaffeehäuser, der einzigartigen Architektur. Jetzt ist sie temporärer Schutzort, an dem man einmal kurz durchatmen kann.

An den ersten Kriegstagen waren die alten Straßen des Stadtzentrums leer. Nur wenige Cafés waren geöffnet, aber statt Musik und Gelächter herrschte dort Stille, die nur ab und zu vom Heulen einer Luftschutzsirene oder dem Martinshorn eines Krankenwagens durchbrochen wurde. Man könnte meinen, dass aktuell das Leben die Stadt verlassen hat. Doch der Schein trügt. Der Puls der Stadt ist jetzt nur nicht mehr im touristischen Stadtzentrum. Er schlägt am Bahnhof, an den Kontrollpunkten, in den Notunterkünften der Flüchtlinge. Die Theater und Museen der Stadt sind jetzt gefüllt mit Hilfslieferungen für die Neuankömmlinge und mit Paketen für die Front, die Freiwillige pausenlos dorthin transportieren.

Neben der Diana-Statue am Ringplatz, wo früher die Lemberger donnerstags immer Tango tanzten, knüpfen jetzt Menschen Tarnnetze für Militärfahrzeuge. In der Nähe gibt ein Priester den Arbeitern Anweisungen. Sie verschließen die Fenster der Kirche in der alten russischen Gasse mit Brettern, um die Glasscheiben vor Druckwellen zu schützen. Einige Lemberger verlassen die Stadt. Aber viele bleiben. Sie werden weiter den Flüchtlingen helfen, die Armee versorgen und sich darauf vorbereiten, die Stadt vor dem Feind zu schützen.

privat
Rostyslav Averchuk

ist 33 Jahre alt, Journalist, Dolmetscher sowie Experte für Politik und Wirtschaft. Er lebt und arbeitet in Lwiw.

Während sich am ersten Kriegstag noch lange Schlangen vor den Bankautomaten bildeten, sind jetzt die längsten Schlangen vor den Waffenläden. Halbautomatische Karabiner, Jagdgewehre, günstige und teure Modelle – alles geht gerade weg wie warme Semmeln.

Lemberg ist eine gastfreundliche Stadt. Aber sie duldet keine Unhöflichkeit.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

Finanziert wird das Projekt durch die taz Panter Stiftung

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • "Lemberg"?



    Sind wir hier beim Revanchistentreffen oder bei einer linksliberallen Zeitung?