Leidenschaft in Zeiten der Pandemie: Nicht mal ein bisschen Fußball
Warum die Bereitschaft, sich Sport anzuschauen sogar dann schwindet, wenn plötzlich Zeit dafür ist. Anderes ist halt wichtiger.
I ch hab viel Zeit. Seit März schon. Ich hab mich weitgehend isoliert. Ich hätte viel Zeit, Fußball zu kucken oder Tennis oder Darts. Aber ich hab immer seltener Lust. Das Spiel am Dienstag habe ich nicht gesehen. Offenbar habe ich was verpasst, sagt man mir. Es fühlt sich nicht so an.
Ich sehe die Meldungen aufploppen, wer sich jetzt wieder alles mit Covid-19 infiziert hat. Die halbe ukrainische Nationalmannschaft, aha. Die ganzen Monate haben wir nicht eine'n Fußballer'in mit Maske spielen sehen. Das ist auch nie groß diskutiert worden. Es ging immer nur darum, so zu tun, als wäre draußen nix.
Ich höre die Phrasen. Sie meinen etwas anderes, sie sprechen über andere Dinge. Sie sagen: Wir müssen realistisch bleiben. Sie sagen: Ich trage die Verantwortung. Sie sagen: Vorbildfunktion. Ich lese das Interview mit İlkay Gündoğan. Er spricht über seine Covid-Erkrankung. Er sagt, er habe das ursprünglich nicht so ernst genommen; aber jetzt wisse er, dass das sehr ernst zu nehmen sei. Das habe er gemerkt, vor allem, nachdem sein Vater ihn angerufen habe und weinte. Jetzt spielt er wieder, als wäre nichts gewesen.
Ich sehe keine Profisportler'innen mit Maske. Es sei absurd, sagt man mir, nicht praktikabel. Es gibt ganze Forschungseinrichtungen, die sich mit der Flugbahn neu entwickelter Bälle beschäftigen; es gibt Heere von Mediziner'innen, die Trainings- und Belastungssteuerung koordinieren, um noch ein bisschen Leistung aus den Körpern zu pressen. Es gibt sogar Firmen, die Masken entwickelt haben, um künstlich Atemnot zu erzeugen. Das sei, so heißt es, ein moderner Weg, die Atemmuskulatur zu trainieren. Aber es ist nicht möglich, Masken zu designen, die nicht verrutschen beim Sprint. Es seien Leistungseinbußen hinzunehmen bei extremer Belastung, heißt es.
Yoga und die Lebenserwartung
Ich habe gelernt: Selbststrangulation ist okay. Solange es der Sache dient. Die Sache, die zählt, sind drei Punkte am Ende. Dem ist alles unterzuordnen.
Ich kucke Sport und mache Yoga dabei. Ich sitze viel neuerdings, und wenn ich nicht sitze, dann liege ich. Ich mache Sport für die Rückenmuskulatur. Ich halte mich gesund und schaue dabei Leuten zu, wie sie sich kaputt machen. Ich lese Artikel über die Lebenserwartung von Leistungssportlern. Die Studie heißt „Jung stirbt, wen die Götter lieben?“. Lutz Thieme hat sie verfasst. Im Interview mit brand eins sagt er: „Jeder Leistungssportler weiß und spürt, dass er an die Grenze dessen geht, was man als gesund bezeichnen kann – anders kann man international auch nicht mithalten.“
Ich will nicht international mithalten. Warum soll ich mich mit Leuten identifizieren, die international mithalten wollen? Ich sehe den Sport da draußen, der so verzweifelt versucht, eine Illusion von Normalität aufrechtzuerhalten. Wie er versucht zu verdrängen. Wie er eine Sorglosigkeit vorgaukelt, wie er den unbedingten Leistungswillen zelebriert. Das ist kein Spiel mehr, es hat nichts Leichtes an sich. Ich habe keine Freude daran, Menschen dabei zuzusehen, wie sie sich für mich gefährden. Auch dann nicht, wenn sie sehr viel Geld dafür bekommen. Vielleicht bin ich naiv. Ich hatte Zeit, nachzudenken,seit März, und bei einer Sache bin ich mir sicher: Naiv ist besser als zynisch.
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