Lehrkräfte streiken für kleinere Klassen: Schlechtes Timing
Die Gewerkschaft GEW will in Berlin kleinere Klassen tarifvertraglich regeln. Das Anliegen ist verständlich – und etwas naiv. Ein Wochenkommentar.
D ie Gewerkschaft der Berliner Lehrkräfte, die GEW, macht es sich gerade wirklich nicht leicht: Von Unverständnis über Spott bis zu offener Empörung reichte die Bandbreite der Reaktionen auf den Warnstreik der Gewerkschaft am Donnerstag, schließlich lag er mitten in der mündlichen Abiturprüfungsphase. Rücksichtslos sei das, ein Streik auf dem Rücken der ohnehin schon pandemiegebeutelten Jugendlichen, hieß es selbst von gewerkschaftlichen Anliegen stets wohlgesonnen Bildungspolitiker*innen. Die Vorsitzende der Vereinigung der Berliner Schulleiterinnen und Schulleiter in der GEW trat gar aus Protest von ihrem Amt zurück.
Immerhin: Dank der Termindiskussion erreichte das Anliegen sogar die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD). Sie tat der Gewerkschaft den Gefallen, über den eigentlich überschaubaren Warnstreik – lediglich 3.000 der rund 24.000 angestellten Lehrkräfte in Berlin beteiligten sich – auch noch fünf Worte zu verlieren. Kleinere Klassen, sagte die Regierende, seien ja ein verständliches Anliegen – aber doch nicht bei dem bekannten Lehrkräftemangel. Und dann auch noch die vielen geflüchteten Kinder, die es nun gelte, zu integrieren!
Das ließ die GEW mit ihrer Forderung nach kleineren Klassen – 19 Kinder maximal an Grundschulen statt der bisher erlaubten 26 – etwas blöd da stehen: ein bisschen naiv wirkt die Gewerkschaft, ein bisschen realitätsfern. Und auch ein bisschen selbstbezogen: Schließlich geht es in dem Tarifvertrag Gesundheitsschutz, der erstritten werden soll, um Kompensationen für die Kolleg*innen. Sprich: Sind die Klassen voller als 19 Schüler*innen, müssten die Lehrkräfte in diesen Klassen nach GEW-Vorstellungen einen finanziellen Ausgleich bekommen.
Mehr Geld fordern, wo es doch jetzt darum gehen sollte, jeden verfügbaren Stuhl im Zweifel mit einem geflüchteten Kind zu besetzen – da kann man in der öffentlichen Wahrnehmung eigentlich nur verlieren. Statt die öffentliche Bühne für eine inhaltliche Auseinandersetzung zu bekommen, muss sich die Gewerkschaft jetzt rechtfertigen und sieht sich in die Ecke gedrängt. Der Streik ist ganz einfach schlechtes Timing.
Das Ziel bleibt utopisch
Um doch nochmal auf das inhaltliche Anliegen nach kleineren Klassen zu schauen: Auch bei der Gewerkschaft weiß man natürlich, dass angesichts des Personal- und Raummangels in Berlin kleinere Klassen auch auf mittelfristige Sicht erst mal eine Utopie bleiben.
Die Zahl der Schulkinder wächst, rund 15.000 geflüchtete Kinder kommen nach Schätzungen der Bildungsverwaltung durch den Krieg in der Ukraine noch dazu. Und bis eine Schule neu gebaut ist, dauert es trotz der Schulbauoffensive des Senats immer noch viel zu lange. Die Kapazitäten für mehr Lehramtsstudienplätze werden dieses Jahr mit den Berliner Universitäten erst neu verhandelt.
„Der Tarifvertrag soll in die Zukunft wirken und den Druck auf den Arbeitgeber erhöhen“, versuchte der Berliner GEW-Vorsitzende Tom Erdmann die Pessimist*innen zu kontern. Es geht also um ein tarifliches Druckmittel, um die rot-grün-rote Koalition an ihr selbst gestelltes Ziel des „nachhaltigen Personalaufwuchses“ in den Schulen zu gemahnen. Für den wollen die Koalitionäre immerhin „alle Möglichkeiten ausschöpfen“.
Wenn die selbst gesteckten politischen Ziele quasi mit einer Vertragsstrafe bewehrt sind – wird nicht in mehr Personal investiert, kostet das auch Geld – sorgt das für die nötige Ernsthaftigkeit, den Lehrkräftemangel anzugehen. Damit hat die GEW theoretisch Recht. Und genau deshalb wird ihr Ruf nach kleineren Klassen bis auf weiteres Wunschdenken bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja