Leben in der spanischen Krise: Die anderen Hausbesetzer
Strom und Wasser sind abgestellt. Trotzdem kann Manoli Cortés dem improvisierten Leben in der Corrala Utopía etwas Positives abgewinnen.
SEVILLA taz | „Ich rauche zu viel“, entschuldigt sich Carmen Ferrer und steckt sich schon die Nächste an. „Es ist wie ein Albtraum. Vierzig Jahre habe ich in die Sozialversicherung eingezahlt, und jetzt ende ich so“, sagt die 56-Jährige.
„So“ – damit meint sie die Corrala Utopía, einen Neubaublock im südspanischen Sevilla. Am 15. Mai dieses Jahres, dem ersten Jahrestag der Proteste der spanischen „Empörten“, besetzten 36 Familien – insgesamt 121 Menschen – das leer stehende Gebäude am Stadtring. Sie wären sonst auf der Straße gelandet, da sie ihre Wohnungen nicht mehr bezahlen konnten. Spanien steckt tief in der Krise.
„Was hätten wir anderes tun sollen?“, fragt Carmen Ferrer fast entschuldigend. Sie sieht sich „nicht als Besetzerin, sondern als Bedürftige“. Die alleinerziehende Mutter lebt mit ihrer 24-jährigen Tochter Patricia und ihrem 26-jährigen Sohn Antonio in einer Dreizimmerwohnung im zweiten Stock. „Im März habe ich meine Wohnung verloren“, beginnt ihre Geschichte eines angekündigten Bankrotts.
Ein Jahr Mietrückstand
Carmen Ferrer ist Verwaltungsgehilfin in der Regionalregierung Andalusiens. 900 Euro verdient sie noch, nachdem ihr Gehalt im Verlauf der Sparmaßnahmen um 5 Prozent gekürzt und das Weihnachtsgeld gestrichen wurde. Gleichzeitig stieg die Miete ihrer Sozialwohnung in den letzten drei Jahren von 120 auf 450 Euro im Monat. Tochter und Sohn haben längst ihren Job im Gaststättengewerbe verloren. „Irgendwann waren wir dann mit den Mietzahlungen fast ein Jahr im Rückstand“, erklärt Ferrer.
Die Stadtverwaltung klagte auf Räumung. Zu den 6.000 Euro Mietschulden kommen nun noch 4.000 Euro Gerichtskosten. Außerdem hat die Angestellte einen Privatkredit bei einer Bank laufen, der monatlich 400 Euro Raten verlangt. Das war das Aus.
Ferrers waren wohnungslos: „Ich konnte nicht einmal mehr alle meine Sachen in Sicherheit bringen, als der Räumungsbescheid kam.“ In der dritten Nacht unter freiem Himmel wurden sie von einer Gruppe rechtsradikaler Jugendlicher angegriffen. Nach Übergangslösungen bei Freunden wendete sich Ferrer an die „Empörten“ – die nach dem 15. Mai 2011 benannten Bewegung 15M. Diese unterhält in allen Stadtteilen Sevillas Beratungsstellen für Menschen, die ihre Miete oder Wohnungskredite nicht mehr bezahlen können und vor der Räumung stehen oder bereits obdachlos geworden sind. Zwei Monate bereitete sich Ferrer in einer Gruppe auf die Besetzung vor.
Geranien auf dem Balkon
Sie erklärten ihr die Rechtslage und suchten ein Gebäude, dessen Besitzverhältnisse ungeklärt sind. „In den ersten Nächten hier habe ich kaum geschlafen“, erinnert sich Ferrer. Mittlerweile ist sie gelassener. Ferrer hat ihre Wohnung mit den ihr verbliebenen Möbeln und mit Sachspenden eingerichtet. Auf dem Balkon blühen Geranien. „Die Pflanzen und meine Hündin vermitteln mir den Eindruck von einem normalen Leben“, sagt sie.
Doch normal ist etwas anderes. Das Gebäude, das eigentlich in Eigentumswohnungen aufgeteilt und dann verkauft werden sollte, gehört nach dem Bankrott der Baufirma einer Bank. Diese kann es zwar auch nicht loswerden, aber Besetzer stören dennoch. Strom und Wasser wurden abgeschaltet.
Als die Bewohner die gekappte Wasserleitung wieder in Ordnung bringen wollten, umstellte Polizei das Gebäude. Gemeindearbeiter rissen die Straße auf und entfernten in zwei Metern Tiefe ein Stück der Hauptleitung. „Seither müssen wir Wasser aus einem Brunnen holen, der neben dem Haus von der Stadtverwaltung installiert wurde“, berichtet Ferrer. Aufgeben will sie nicht. „Wo soll ich sonst auch hin?“
Keine Kühlung für Medikamente
„Eine Schande ist das“, schimpft ihre Nachbarin Vanesa Arias. 20.000 Euro hat die konservative Stadtverwaltung laut Presseberichten für die Unterbrechung der Wasserzufuhr sowie die Errichtung des Brunnens ausgegeben. Arias ist von fehlendem Strom und Wasser besonders hart betroffen. Die 33-jährige arbeitslose Putzfrau hat drei kleine Kinder. Ihr Ältester, der sechsjährige Yeray, hat Downsyndrom und Glasknochen. Er braucht mehrmals am Tag eine Injektion. „Das Medikament muss kühl gelagert werden“, beschwert sich die junge Frau. Arias stellt die Glasampullen bei ihrer Mutter in den Kühlschrank und holt sie einzeln ab. Zwar steht auf dem Balkon ein Stromgenerator, doch das Geld, um damit den ganzen Tag über einen Kühlschrank zu betreiben, das hat sie einfach nicht.
Die südspanische Region, in der knapp ein Viertel aller Spanier lebt, leidet besonders stark unter der Krise. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 34 Prozent, Tendenz steigend. Bei jungen Menschen unter 25 Jahren sind sogar 63 Prozent ohne Job.
Auch bei den Zwangsräumungen von Wohnungen hält Andalusien den traurigen Rekord. Von 2007 bis Ende 2011 verloren 68.053 Familien ihre Wohnung, weil sie Miete oder Kredit nicht mehr bezahlen konnten. Sie sitzen auf der Straße, die Bank beschlagnahmt die Immobilie, die Schulden bleiben. Jedes fünfte Opfer einer Zwangsräumung ist damit Andalusier.
Die Region ist pleite. Die Autonomieregierung in Sevilla hat einen Antrag auf Finanzhilfe durch den von Madrid eingerichteten Fonds für angeschlagene Regionen gestellt. Die Ratingagentur Moodys stufte Andalusien prompt auf Ramschniveau herab. (rw)
Familie Arias lebt von der Hand in den Mund. Arbeitslosengeld erhält Vanesa Arias schon lange nicht mehr. Unterstützung für Langzeitarbeitslose gibt es erst ab 47. „Mein Mann ist auch arbeitslos und sammelt Schrott. Das bringt am Tag 5 bis 10 Euro“, berichtet sie. Nach einer Gesetzesänderung als Teil des Sparpakets der konservativen Regierung in Madrid soll er künftig als Selbstständiger Versicherungsbeiträge zahlen. „Woher sollen wir das nehmen?“, fragt Arias.
Zwar steht der jungen Familie die staatliche Hilfe für pflegebedürftige Kinder zu. „Doch da wir keinen regulären Wohnsitz mit einem Strom- und Wasservertrag haben, zahlen sie nicht“, beschreibt die junge Frau den Teufelskreis, in dem sie sich befindet. Auch sie hat Mietschulden und muss außerdem die Kosten der Räumungsklage tragen. „Eine verkehrte Welt“, sagt sie.
Mitbestimmen
Wie alle Bewohner der Corrala Utopía gehört Vanesa Arias einer der Kommissionen an, die das Wohnprojekt verwalten. Die Kommission für Zusammenleben schlichtet alltägliche Nachbarschaftskonflikte, die Kommission für Ressourcen verwaltet die Lebensmittel- und Sachspenden, die Kommission für Infrastruktur kümmert sich um anfallende Reparaturen.
Arias ist im Organisationskomitee und bereitet Proteste vor, druckt Flugblätter und kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit. Einmal in der Woche treffen sich alle zur Vollversammlung. Dort werden die größeren Probleme diskutiert, Aktionen abgestimmt. Aus Protest gegen die Abschaltung von Wasser und Strom besetzten die Bewohner der Corrala Utopía die Stadtwerke und blockierten mehrmals den Verkehr auf dem Stadtring. „Kein Strom, kein Wasser, keine Angst!“, hat jemand mit bunter Kreide an die Hauswand geschrieben.
„Wenn für wohnungslose Familien keine billigen Sozialwohnungen zur Verfügung gestellt werden, dürften die Besetzungen zunehmen“, prophezeit Manoli Cortés aus dem zweiten Stock. In Spanien werden täglich mehr als 500 Wohnungen zwangsgeräumt. Im ersten Halbjahr 2012 waren es alleine in Sevilla 2.000. Dagegen stehen 118.000 Wohnungen rund um Sevilla leer. „Ich bin Arbeiterin, keine Besetzerin“, erklärt die 65-Jährige.
Abgekämpft – für nichts
Die adrett gekleidete Frau war nach der Scheidung alleinerziehend, arbeitete stets in prekären Verhältnissen, um sich und vier Kinder durchzubringen. Zuletzt war Cortés 19 Jahre lang Haushaltshilfe bei einer Familie, dann wurde sie entlassen. In die Sozialversicherung hatte diese Familie nie für sie eingezahlt. „Ich habe mich abgekämpft, für nichts“, sagt sie.
Die 423 Euro Witwenrente, die sie nach dem Tod ihres Exmanns erhält, reichten nicht, um den Wohnungskredit abzuzahlen. „Nach einer Räumungsklage habe ich alles verloren und soll die Schulden der Hypothek dennoch begleichen“, schimpft sie. „Was ist das für eine Welt, in dem es Rettungspakete für Banken gibt, aber nicht für notleidende Familien?“
Auch die vier Kinder von Cortés sind arbeitslos und wohnen in der Corrala. Die beiden jüngsten Söhne, 25 und 27 Jahre alt, leben mit ihrer Mutter in der Dreizimmerwohnung, die anderen beiden, 41 und 45 Jahre alt, zwei Stockwerke höher. Sie habe ihre Söhne unterstützt, als einer nach dem anderen arbeitslos wurde. „Aber wenn dann die Mutter nicht mehr kann, bricht eben alles zusammen“, sagt Cortés.
Selbst genähte Gardinen
Das Leben in der Corrala ist nicht leicht. Cortés kocht auf einem Campingkocher, wäscht von Hand. Das Wasser schleppt sie dazu in großen Kanistern in den zweiten Stock. Sie hat es sich, soweit das mit gespendeten Möbeln geht, gemütlich gemacht. Sogar einen Fernseher hat sie. Er wird per Generator betrieben. „Ich kann doch nicht ab 8 Uhr abends im Dunkeln sitzen“, sagt sie. Ihr ganzer Stolz sind die selbst genähten Gardinen, die sie in der Küche angebracht hat.
Anders als ihre beiden Nachbarinnen Arias und Ferrer gewinnt Cortés der Situation etwas Positives ab. „Als ich hierher zog, war ich am Boden zerstört“, erklärt sie. „Jetzt habe ich mich gefunden. Es gibt mehr im Leben, als zu arbeiten, um die Kinder durchzubringen.“ Cortés, die nie zuvor politisch aktiv war, lebt gern in der Corrala. Sie fühlt sich nicht mehr allein. „Das Verhältnis unter den Nachbarn ist sehr freundschaftlich“, sagt sie. Die Türen der meisten stehen für Besuche untereinander offen.
Die energische Manoli Cortés ist bei jeder Protestaktion in der ersten Reihe dabei. „Falls die Corrala geräumt wird? Dann besetze ich eben eine andere Wohnung, so lange, bis sie uns eine Lösung anbieten“, sagt sie mit fester Stimme. Und fügt hinzu: „Wenn du erst einmal da angekommen bist, wo ich bin, hast du vor nichts mehr Angst!“
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