Langweilige Raumdeckung im Fußball: Sprengt die Ketten!
Wie so oft heutzutage war in dieser EM-Vorrunde die Fünferkette das Mittel der Wahl. Der Fußball bräuchte einen neuen, spannenderen Ansatz.
Man sitzt unterm Stadiondach, der Blick aufs Spielfeld ist gut. Die taktische Formation tut sich in aller Klarheit auf, was im Fernsehen nicht immer der Fall ist. Unten bilden sie sich dann, die Ketten. Viererkette in der Abwehr. Aber meist ist es eine Fünferkette. Teams, die nicht auf Champions-League-Niveau kombinieren können und sich prinzipiell unterlegen fühlen, stehen zu fünft bang auf einer Linie.
Die Fünferkette war das Mittel der Wahl bei dieser Europameisterschaftsvorrunde, eine Sicherheitsvariante, die verdammt langweilig und ob ihrer Anfälligkeit in der Organisation eines Abseits ohnehin von gestern ist. Vor der Fünferkette steht zumeist noch eine Viererkette, davor ein Einzelner – ein lächerliches Offensivrudiment.
Dieser Defensivansatz, fußend auf einem Limes der Einfallslosigkeit, bestimmt heuer zu oft das Handeln und Denken der Akteure. Träge und berechenbar wird Letzteres. Angesichts dieser öden Raumherumsteherei wünscht man sich manchmal die gute alte Manndeckung zurück, den Libero und den Vorstopper – schlichtweg mehr taktische Flexibilität, also ein Umschalten zwischen Raum- und Mannverteidigung – oder eine gezielte Bearbeitung von gegnerischen Schlüsselspielern nach der Methode Schwarzenbeck. Ja, warum denn nicht? Alles wäre besser als eine Fünferkette!
Die Fünferkette führt in eine Sackgasse, sie markiert eine Regression im Fußball, und es ist bezeichnend, wenn Teams, die auf Viererkette setzen, plötzlich innovativ und fortschrittlich wirken, dabei ist die Viererkette, hübsch von den Schweizern oder den Deutschen in Szene gesetzt, auch nur ein Relikt aus dem 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Die Dekade des Wandels
Damals begann die Revolution bei Arrigo Sacchis AC Mailand. Dem Libero wurde der Garaus gemacht. Die Innovation brachte große Erfolge. Ajax Amsterdam oder Juventus Turin hatten schnell erkannt, dass dieser Paradigmenwechsel bedeutsam ist, auf Jahrzehnte hinaus, und sprangen früh auf den Zug auf. In Deutschland dauerte es bis Ende der 90er, Anfang der Nullerjahre, bis der Libero verschwand. Man hing sehr stark am Prinzip Beckenbauer. Es war der Liga in Fleisch und Blut übergegangen.
In einer Dekade des Wandels wurde dann überall auf der Welt die Viererkette eingeführt. Doch zu Anfang wurden Bundesligatrainer, die eine Viererkette probierten, gern mal fertiggemacht: Erich Ribbeck beim FC Bayern oder Aad de Mos bei Werder Bremen.
Einmal verbot Uli Hoeneß persönlich die weitere Verwendung der Kette, ein anderes Mal sagte Aad de Mos: „Wenn der Gegner nur mit einer Spitze spielt, brauchen wir hinten nicht vier Leute. Dann rückt einer ins Mittelfeld auf. Dadurch werden wir noch offensiver und können aggressiver Pressing spielen.“
Die Viererkette galt als der heiße Scheiß, das Nonplusultra, und hierzulande war es ein gewisser Ralf Rangnick, der das Neue lehrte. Er war Trainer in Reutlingen und Ulm, nebenbei fungierte er als Geschäftsführer eines Reha-Zentrums. Damals sagte er Sätze wie: „In der Trainerausbildung des DFB spielt Raumdeckung eine ähnlich große Rolle wie die Fidschiinseln im Erdkundeunterricht.“ Oder: „Geben Sie mir 16 Mittelstreckenläufer. Nach vier Wochen Übung können die gut ballorientierte Raumdeckung spielen.“ Rangnick hatte begriffen, wohin der Weg im modernen Fußball führt.
Rangnick, der Pirat
Bei dieser EM gilt Rangnick mit seinen Österreichern als das Mastermind schlechthin, was bezeichnend ist für die taktische Qualität des Championats, denn er macht auch nur, was damals in den 90ern schon en vogue war: „Pressing heißt, sich den Ball zu erobern – so weit vom eigenen Tor entfernt wie möglich. Das hat etwas Piratisches an sich.“
Dass Rangnick heuer immer noch als, nun ja, Pirat gilt, ist kein gutes Zeichen für die Innovationskraft des Fußballs. Soll heißen: Die einst zwangsläufige Verkettung in der Defensive hat zu einer Starre, ja, zu einem Vergötzen der Viererkette geführt – mit dem finalen Irrweg der Fünferkette.
Wer die exzeptionelle Langeweile im Spiel – prototypisch im Spiel von Manchester City zu besichtigen – nicht mehr ertragen mag, wünscht sich eine baldige Disruption herbei, ein geniales Switchen zwischen Mann- und Raumdeckung, das mitnichten reaktionär wäre. Der Fußball bräuchte einen neuen Ansatz: Sprengt die Ketten!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen