Langfristprojekte bei S- und U-Bahn: Der Senat kann auch weitsichtig
Strecken zu beschließen, auf denen erst in Jahrzehnten Züge fahren, wirkt nicht wie das drängendste unter Berlins Problemen. Das stimmt aber nicht.
F ür U-Bahn-Verhältnisse ist es schier ein Hochgeschwindigkeits-Projekt des Senats: Falls tatsächlich 2031 die ersten Fahrgäste aus einer verlängerten U-Bahnlinie 3 am Mexikoplatz in Zehlendorf steigen, ist das im Vergleich zu sonstigen Schienenprojekten kurzfristig. Andere Vorhaben, wie die am Dienstag ins Auge gefasste S-Bahn-Verbindung zwischen Springpfuhl und Grünau, haben da ganz andere Ausmaße. Für Prüfung, Planung und Genehmigung kam Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) zusammengerechnet auf mindestens zehn Jahre. Bis die Schienen liegen, könnte mindestens nochmal so viel Zeit vergehen, so dass der Begriff „Jahrzehnteprojekt“ durchaus angemessen erscheint.
Das gilt umso mehr für die vom Senat angestrebten Verlängerungen bei anderen U-Bahn-Linien, etwa der U7, gleich in beide Richtungen. Dort geht es um kilometerlangen Ausbau und nicht wie bei der U3 in Zehlendorf um bloße 800 Meter. Weil Schreiner selbst für diese Strecke vier Jahre Bauzeit veranschlagt, lässt sich per Dreisatz leicht ausrechnen, dass die fünf Kilometer vom jetzigen U7-Endpunkt in Rudow bis zum BER rund zwei Jahrzehnte dauern würden. Zu Jahresbeginn beklagte der Wirtschaftsverband UVB, dass 29 Kilometer Gleisbau zwischen Cottbus und Lübben zehn oder mehr Jahre dauern würden.
Diese Dimensionen können durchaus die Frage aufwerfen: Hat der Senat bei den vielen Problem Berlins – vom Mega-Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt über konkret fehlende Wohnungen und eine suboptimal funktionierende Verwaltung – keine drängenderen Probleme? Das kann einem Autor umso mehr passieren, der in einem Alter ist, das im Senat allein der 59-jährige Bausenator Christian Gaebler und die 62-jährige Innensenatorin Iris Spranger (beide SPD) überschreiten. Da kann man durchaus anzweifeln, selbst noch auf diesen Strecken fahren zu können, und sich fragen: Was nützt mir das?
Die Antwort lautet: Es ist sehr wohl ein drängendes Thema – und eine Landesregierung ist in der Pflicht, auch an morgen zu denken. Viel zu lange ist gerade mit Blick auf die langen Zeiträume nichts passiert. Oft gab es den Verweis auf schneller zu bauende Tramlinien, die aber auch nicht gerade massenweise entstanden sind.
Spezielle Politiker-DNA
Jedes Jahr aber, in dem sich nichts in Richtung Schienenausbau bewegt, verschiebt den Zeitpunkt der ersten Fahrt auf neuen Gleisen um ein weiteres Jahr in die Zukunft. Und gerade wenn Einigkeit herrscht, dass es ohne neue Verbindungen nicht richtig klappen kann mit Verkehrs- und Energiewende, ist das fatal.
Dass eine solche logische Betrachtungsweise nicht immer zum Zuge kam, liegt auch daran, dass zur Politiker-DNA das Denken in Wahlperioden gehört: Wer wiedergewählt werden will (und eine Partei, die das nicht anstrebt, ist in dem Geschäft falsch), muss nach vier oder fünf Jahren etwas vorzuweisen haben. Schienenausbauprojekte aber fallen nicht in die Kategorie „schnell vorzeigbar“. Deshalb gerät, gar nicht mal aus bösem Willen, anderes in den Vordergrund. Und da nicht Zeit für alles ist, fällt manches schlicht weg.
Wenn der schwarz-rote Senat nun binnen zwei Wochen gleich zwei Beschlüsse für Langzeitprojekte gefasst hat, ist das eine wohltuende Abkehr vom nur auf die nächste Wahl fixierten Blick. Ja, es gibt aktuelle Probleme zu lösen. Aber in Berlin werden auch in 20, 30 Jahren noch Menschen leben, und mutmaßlich mehr als heute. Für diese Menschen heute keine Vorsorge zu treffen, wäre ein großes Versäumnis – und als Älterer heute nur auf den persönlichen Nutzen zu schauen ein Egoismus, den sich eine Stadt wie Berlin nicht leisten kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt