Lage in der Ukraine: Der Zermürbungskrieg
Kurz vor den US-Wahlen ist die militärische Lage der Ukraine unsicher. Indessen bekommt Russland Unterstützung durch Tausende Soldaten aus Nordkorea.
Der Oktober war für die Ukraine ein Monat voller Herausforderungen. Die Lage an der Front ist schwierig, die Regierung macht militärische und politische Fehler, der tägliche Beschuss und die Aussicht auf Stromausfälle im Winter haben große Auswirkungen auf die Moral. Der Krieg dauert nun schon sehr lange und die Erschöpfung fordert ihren Tribut.
Allzu sehr erwarteten manche, Präsident Wolodymyr Selenskyj würde mit seinem „Siegesplan“ ein magisches Rezept erfinden, um die Kriegsmaschinerie des Kremls ohne große Anstrengungen der Partner zu stoppen. Er präsentierte den Plan zuerst in Washington, dann in Europa und schließlich im ukrainischen Parlament. Die eher verhaltene Reaktion darauf war eine kalte Dusche.
Selenskyjs Plan löste keine große Euphorie aus, da er lediglich die Schritte systematisiert, die die Ukraine in den letzten zweieinhalb Jahren bereits mehrfach als Weg zum Frieden geäußert hat – Nato-Beitritt, Lieferung aller heute notwendigen Waffen und Abschreckungsmittel für die Zukunft.
Was wirklich neu war und zum ersten Mal geäußert wurde, waren die Bereitschaft des ukrainischen Militärs, nach dem Krieg die US-Truppen in Europa zu ersetzen, und die Forderung, die natürlichen Ressourcen der Ukraine für eine zukünftige gemeinsame Nutzung zu schützen. Der Schlüssel zu diesen Schritten bleibt die formelle Einladung der Ukraine in die Nato, um ein klares Signal an Wladimir Putin zu senden.
Die US-Wahlen verlangsamen alles
Doch auch wenn diese Schritte aus militärischer Sicht durchaus logisch erscheinen, haben die wichtigsten Partner – die USA und Deutschland – keine Eile, eine solche politische Entscheidung zu treffen. Alle warten die Ergebnisse der US-Präsidentschaftswahlen ab. Die Unsicherheit über die weitere Unterstützung des Landes durch die USA ist in der Ukraine deutlich zu spüren. Es ist offensichtlich, dass die Demokratische Partei beschlossen hat, im Wahlkampf keine lauten Aussagen zur Ukraine zu machen, und Donald Trumps Äußerungen zur Beendigung des Krieges stimmen bisher wenig mit der Vision der Ukrainer überein.
Eines ist sicher: Nach den Wahlen könnte sich das Tempo der Waffenlieferungen an die Ukraine weiter verlangsamen. So hat US-Präsident Joe Biden die Lieferung von JASSM-Langstreckenraketen, die für den effektiven Einsatz von F16-Kampfflugzeugen notwendig sind, noch nicht genehmigt. Auch hat er die westlichen Waffen nach wie vor nicht für den Angriff auf Militärziele auf russischem Territorium zugelassen, von denen die ukrainische Seite den Partnern eine Liste vorgelegt hat.
Verspätete Waffenlieferungen, verzögerte Entscheidungsfindung und das Fehlen einer westlichen Vision gehören zu den Hauptgründen, warum sich der Zermürbungskrieg in die Länge zieht. Die Strategie „Die Ukraine darf nicht verlieren und Russland darf nicht gewinnen“ ist weder zielführend noch realistisch. Russland, der Iran und Nordkorea, zweifellos mit Billigung Chinas, treten als geschlossene Front gegen die Ukraine auf. Die Allianz der autoritären Staaten macht sich nicht nur lustig über die westlichen Demokratien, sondern zeigt ganz offen ihre Schwäche auf, sich gegen äußere und innere Bedrohungen zu verteidigen. Die russische Armee nutzt diese Schwäche direkt auf dem Schlachtfeld in der Ukraine aus.
Im Oktober machte die russische Armee die schnellsten Vorstöße seit den ersten Kriegswochen und besetzte 470 Quadratkilometer ukrainischen Territoriums, darunter die Großstädte Wuhledar, Selidowe, Nowohrodiwka, Otcheretyne, Hirnyk, Ukrajnsk und Dutzende weiterer Dörfer. Die russischen Truppen haben ihre taktischen Offensiven in vielen Richtungen gleichzeitig wieder aufgenommen.
Russischer Durchbruch in Pokrowsk
Im Gebiet Charkiw rücken die Russen auf die Stadt Kupjansk vor, die bereits 2022 einige Monate unter ihrer Kontrolle war. Ihr unmittelbares Ziel ist es, das Ufer des Flusses Oskil zu erreichen und dort Fuß zu fassen. Die Grenzstadt Wowtschansk im Norden der Region wurde von russischen Bomben völlig zerstört, aber die ukrainische Armee konnte die Offensive dort stoppen.
Am schwierigsten ist die Lage nach wie vor in der Region Donezk, wo von einst 1,9 Millionen Menschen nur noch 340.000 dort leben. Während die ukrainische Armee den russischen Vormarsch bei Siwersk auf dem Weg zu den Großstädten Slowjansk und Kramatorsk sowie bei Tschasiw Jar stoppen konnte, gelang den russischen Streitkräften im weiteren Verlauf ein Durchbruch.
Toretsk ist bereits zur Hälfte unter russischer Kontrolle. Die Eroberung der Stadt Wuhledar, einer wichtigen Anhöhe in der Region, sowie der Stadt Hirnyk, die ebenfalls auf einer Anhöhe liegt und von den Ukrainern nicht nur für den Abschuss von Drohnen, sondern auch für den Funkverkehr genutzt wurde, öffnet den Weg nach Kurachowe. Die Einnahme von Kurachowe, um das bereits blutige Kämpfe im Gange sind, wird den Verlust der Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte über den gesamten Süden der Region Donezk und ihren Rückzug an die Grenze der Region Dnipro bedeuten.
Der größte Durchbruch gelang den Russen in Richtung der nur etwa zehn Kilometer entfernten Stadt Pokrowsk. Die Stadt ist ein wichtiger logistischer Knotenpunkt für die ukrainische Armee. Außerdem befindet sich in Pokrowsk das einzige Bergwerk der Ukraine, das Kokskohle abbaut, die für die Stahlproduktion unerlässlich ist. Die Ukraine müsste ihre Stahlproduktion um die Hälfte reduzieren, wenn die Besatzer dieses Bergwerk einnehmen. Obwohl sich der direkte russische Vormarsch verlangsamt hat, gehen Experten davon aus, dass die Schlacht um Pokrowsk noch vor dem Winter beginnen wird.
Ein zweiter Staat an Russlands Seite
Neben dem seit Langem bekannten Problem des Munitionsmangels hat die ukrainische Seite eine Reihe von Fehlern bei der Vorbereitung der Verteidigungslinien gemacht, die es den zahlenmäßig deutlich unterlegenen Russen ermöglicht haben, die Front zu durchbrechen. Ein weiteres gravierendes Problem auf ukrainischer Seite ist die oft unkoordinierte Führung der Truppen vor Ort. Hinzu kommt ein drastischer Personalmangel. Die Soldaten, erschöpft von zwei Jahren harter Kämpfe, können nicht für eine Rotation oder eine kurze Pause und Erholung ausgewechselt werden. Die ukrainische Militärführung will nun weitere 160.000 Soldaten mobilisieren, um die Einheiten wenigstens zu 85 Prozent zu besetzen.
Vor diesem Hintergrund hat die russische Armee auch eine Offensive in der russischen Region Kursk gestartet, wo die Ukraine seit mehr als zwei Monaten rund 1.000 Quadratkilometer unter ihrer Kontrolle hält, und unter erheblichem Kräfteeinsatz einen Teil des Gebietes zurückerobert. Nach offiziellen Angaben sind auf ukrainischer Seite mehr als zehn Brigaden an der Operation Kursk beteiligt. Kritiker bezweifeln die Sinnhaftigkeit dieser Operation auf russischem Gebiet angesichts der Lage im Donbas. Andere verweisen auf die Bedeutung asymmetrischer Aktionen, bei denen die Einnahme russischer Gebiete Teil eines größeren militärischen Plans sein könnte.
Gleichzeitig meldet der ukrainische Militärgeheimdienst, dass bereits mehrere tausend nordkoreanische Soldaten in der Region Kursk eingetroffen seien. Darunter sollen sich auch mehrere hundert Offiziere befinden, was darauf hindeuten könnte, dass sie als selbständig operierende Einheiten eingesetzt werden sollen – zum Beispiel, um bereits von den Russen zurückeroberte Gebiete zu halten und so Tausende russische Soldaten für weitere Offensivoperationen freizusetzen. „Das ist de facto bereits die Beteiligung eines zweiten Staates am Krieg gegen die Ukraine an der Seite Russlands“, sagte kürzlich Selenskyj. Offensichtlich hat Wladimir Putin den Moment genutzt, in dem sich die USA auf den Wahlkampf konzentrieren.
Nicht zuletzt setzt die russische Armee ihre täglichen Raketen- und Drohnenangriffe auf ukrainische Städte fort. Allein in der vergangenen Woche wurden 1.100 gelenkte Luftbomben, mehr als 600 Angriffsdrohnen und mehr als 20 Raketen verschiedener Typen auf das Land abgefeuert. Die Städte Cherson, Sumy und Charkiw werden mehrmals täglich angegriffen. Im Durchschnitt werden in der Ukraine täglich etwa ein Dutzend Menschen durch Beschuss getötet und Dutzende verletzt, regelmäßig sind auch Kinder unter den Opfern.
Es ist ein Zermürbungskrieg. Eine völlige Erschöpfung der einen oder anderen Seite ist jedoch noch nicht abzusehen, sodass trotz der schwierigen Lage noch nicht von einer bevorstehenden Niederlage oder einem Ende des Krieges gesprochen werden kann. Pawlo Palisa, Kommandeur der 93. Brigade der ukrainischen Streitkräfte, die seit drei Jahren im Donbass im Einsatz ist und unter anderem um die Stadt Bachmut gekämpft hat, meint: „Frieden und Sieg sind sehr unterschiedliche Konzepte. Wenn wir die Hälfte der Ukraine verlieren, ist das kein Sieg. Ein solcher Frieden ist nur eine Zeit vor dem nächsten Krieg.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr