Länder im Corona-Lockerungswettstreit: Tag der Chancengleichheit
Nein, das Virus macht uns nicht alle gleich: Ob Schlachthöfe oder Spargelfeld – je ärmer und migrantischer, desto mehr Corona-Risiko.
N ein, vor dem Virus sind wir nicht alle gleich, und nein, dieses Virus bietet keine Chance. Als Chance sehen ihn womöglich eh nur (gesunde) Angehörige der Mittelschicht, die schon viele Chancen im Leben hatten und wohl weiterhin haben werden. Ein dreifaches Hurra auf Ressourcen – und sei es nur ein finanzielles Polster aus dem Elternhaus, ein Buddy-Netzwerk oder eine gut verdienende Partner*in im Haushalt.
Warum ich mich dermaßen über die Lockerungen aufregen kann, die schon vor der Ministerpräsident*innenkonferenz am Mittwoch zu einem Pinkelwettstreit unter Anzugträgern transformierten, ich will es erklären.
„Krise als Chance“. Die Politik hätte jetzt die Chance, die Chancengleichheit in den Schulen wenigstens ein klein wenig herzustellen; mit einer sehr einfachen Methode: Internet und Laptops für alle, Lehre und Lehren wird digital.
Ich kenne den Fall einer Familie, wo sich die vier Kinder für die Schularbeiten das Handy der Mutter teilen, die noch dazu nur begrenzten Internetzugang hat. Ich nehme an, diesen Kindern wird es nicht besser ergehen, wenn sie nun bis zu den Sommerferien für zwei Tage pro Woche in die Klassen zurückkommen. Das schöne Argument der Bildungsbürger*innen, dass diese Kinder doch in der Schule viel besser aufgehoben wären, im Sinne der Chancengleichheit, kann ich nur müde weglachen. Ha. Ha. Ha. Chancengleichheit gab es weder vor Corona und wird es auch danach nicht so schnell geben.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Liebe Anhänger*innen der Präsenz- und Schulplflicht, ein Tipp: machen Sie sich mit dem Gedanken vertraut, dass es den Unterricht, wie wir ihn kennen, nicht geben wird – 2020 und womöglich auch 2021 nicht. Weitsichtig und solidarisch wäre es, digitalen Unterricht für weitere Erkrankungswellen zu planen, alles andere wäre unsolidarisch und kurz gedacht. Ellbogen raus und ab mit dem Nachwuchs in die Klassen und in die Abiprüfungen, das ist voll 2019.
Während die eine Hälfte Deutschlands über Fußi ab dem 25. Mai in die Hände klatscht, freut sich die andere wieder darüber, dass Cafés, Restaurants und, ganz wichtig in Doyçland, Biergärten im Mai wieder öffnen. Den Betreiber*innen sei es von Herzen gegönnt, endlich wieder Umsatz zu machen und nicht der drohenden Insolvenz ins Gesicht zu blicken.
Angesichts dieser Lockerungsübungen stellen sie aber Menschen mit Autoimmunerkrankungen und Vorerkrankungen, also die Risikogruppen bei einer drohenden Corona-Infektion, vor die Tatsache, sich noch besser schützen zu müssen und darauf angewiesen zu sein, dass ihre Umgebung mitzieht. Dass diese Gruppen Schutz brauchen, vielleicht als Eltern, vielleicht aber auch nur als Mitarbeiter*in in einem Café oder Supermarkt, da sich jetzt noch mehr abkapseln müssten und es nicht können, das ist einer der Gründe, um an seinem Mitmenschen zu verzweifeln.
Nein, vor dem Virus sind nicht alle gleich, und es ist wohl unwahrscheinlicher, sich bei einer Demo von Virusleugner*innen zu infizieren, als in einem Schlachthof.
Dies ist nämlich ein Land, in dem man sich aufgrund von „schwierigen Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnissen“, anstecken kann, so der schleswig-holsteinische Beauftragte für Zuwanderungsfragen, Stefan Schmidt zu dem jüngsten Fall von 129 Infektionen in der Fabrik Westfleisch. Das Unternehmen bleibt übrigens weiter auf und in Betrieb. Dass besonders Schlachthöfe, nicht nur in Deutschland betroffen sind, zeigt, dass dieses Virus bevorzugt ärmere und migrantische Teile der Gesellschaft trifft und treffen wird. Ischgl in Österreich war die Ausnahme, die Regel ist mittlerweile: je ärmer, desto mehr Corona-Risiko. Denn: Wer sticht den Spargel, wer schneidet das Fleisch? Wer putzt die Supermärkte, wer steht am Eingang als Security? Wer fährt die Pizza oder das Sushi aus und wer sitzt an der Kasse? Menschen aus dem Niedriglohnsektor, meistens migrantisch und dem Virus weitaus ausgelieferter als die, die sich home office und Bringdienste leisten können.
Wenigstens war das einzig Versöhnliche in der vergangenen Woche, dass migrantische Verbände noch vor Corona und im Anschluss an das Attentat in Hanau, den 8. Mai zum „Tag des Widerstandes“ ausgerufen hatten. An dem Tag, an dem vor 75 Jahren der Faschismus in Deutschland besiegt wurde und der dank Esther Bejarano, einer Überlebenden des KZ Auschwitz-Birkenau, in Berlin ein Feiertag ist, wollten Migrant*innen streiken und gegen rassistische Strukturen in diesem Land demonstrieren. Leider hat Corona alles in einen kleineren Rahmen gedrückt. Aber sei's drum, auch nächstes Jahr ist wieder 8. Mai und die Jahre drauf auch. Und stell' Dir vor, es ist der 8. Mai, und wir alle bleiben zu Hause. Das könnte heißen: Kein Spargel, kein Fleisch, kein take away und niemand putzt mehr an solch einem Tag oder schreibt solidarisch eine Kolumne. Nimm diesen Tag als Chance, Deutschland.
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