Ladensterben In Hamburg: Der schwindende Geruch von Papier
Schon wieder geht in Hamburg ein altes Fachgeschäft ein – weder Politik noch Verbraucher:innen stören sich genug daran, um etwas dagegen zu tun.
Es ist falsch, die Räumungskundschaft in die Nähe der Krähen zu rücken, schließlich will Hansen all die Papiere, Stifte, Radiergummis und Aktenordner loswerden und wer weiß, vielleicht hat die Räumungskundschaft schon vorher ihre Blöcke dort gekauft und nicht online.
Büromarkt Hansen hatte alles, was es im Universum von Schreiben, Kleben, Basteln gibt. Es war ein glücklicher Ort für einen Büromenschen, der sich für die Olympiade des am besten ausgerüsteten Schreibtisches vorbereiten wollte. Es war ein glücklicher Ort für ein entfesseltes Schulkind. Hansen war der Ort, an dem man geradeaus durch und dann nach links abbiegend vor einer kleinen Theke nach einer einzelnen Kugelschreibermine fragen konnte, für einen uralten namenlosen Kugelschreiber.
Die Angestellten von Hansen suchten so lange, bis sie die passende Mine fanden. Sie suchten mit der unterschiedslosen Sorgfalt einer Ärztin, der es egal ist, ob sie einen Privat- oder Kassenpatienten vor sich hat. Die Angestellten hatten die Würde von Leuten, die sich ihrer Sachkenntnis bewusst sind, und das schien sich den Kund:innen zu vermitteln, die man selten herumpampen hörte. Bei Hansen wusste man nie, ob man gerade mit dem Geschäftsführer oder der Geschäftsführerin sprach, weil jeder und jede es hätte sein können.
Echte Menschen an der Kasse
Hansen wirkte so wenig verstaubt wie es ein Geschäft sein kann, das mit Papier und nicht mit iPhones handelt. Trotzdem hatte es eine gewisse Zeitenthobenheit. Es gab dort so viele Mitarbeiter:innen, wie man sie in Geschäften, die ihre Personalquote an dividendefreundlichen Algorithmen ausrichten, nicht findet. Es gab eine Kasse, an der gelegentlich sogar zwei Frauen standen, die gar nicht erst versuchten, sich in Scanner-Maschinen zu verwandeln.
Hansen schließt nach 92 Jahren, es war die vierte Generation, die das Geschäft führte. Als ich den Geschäftsführer, einen schmalen Mann in Pullover mit Stehkragenhemd, nach einem Interview fragte, winkte er ab. In anderen Zeitungen wird er mit den Gründen für das Ende zitiert. Es ist eine Sammlung, die mit Homeoffice nach Corona beginnt, sich mit der Konkurrenz des Onlinehandels fortsetzt und bei der Schwierigkeit, Lehrlinge zu finden, endet.
Steigende Mieten sind nicht darunter, das ist selten in Hamburg, und es liegt daran, dass der Familie das Geschäftshaus gehört. „Dann muss man schon einiges falsch machen, wenn einem das Haus gehört“, hat mir jemand gesagt. Ich kann das nicht beurteilen, Hansen betrieb schon seit einiger Zeit parallel einen Onlinezweig, das also haben sie nicht verschlafen.
Vielleicht muss man gerade auch gar nichts falsch machen, um zu scheitern, zumindest scheitern gerade viele. Eine Auswahl der schließenden Läden aus einem Kilometer Umkreis: ein Antiquariat, ein Naturtextilienladen, ein Bäcker, ein Haushaltswarenladen – alles kleine, inhabergeführte Läden. Wer überleben will, muss, so scheint es, Kette oder edelexklusiv sein. Also Bäckerfiliale oder ein Edelbäcker wie derjenige, der sich zweihundert Meter vom Büromarkt Hansen entfernt niedergelassen hat und seine Brötchen für zwei Euro pro Stück verkauft.
In Zeiten, in denen sich alles Mögliche polarisiert, spaltet sich auch der Papierladen in Amazon-Niedrigpreis-Handel und den Tempel für handgeschöpftes Bütten aus Venedig, sodass aus der Entscheidung für den Kauf von Bleistiften auch gleich eine fürs soziale Milieu wird, wie man sie sonst an der Kneipentür trifft. Sonderbar, wenn man dem Büromarkt hinterhertrauern muss als einem Ort sozialer Mischung, weil es inzwischen so wenige sind, dass man sich die paar gegenseitig vorsagen kann.
Zu klein für Rettungsschirme
Pech für die kleinen Läden, dass sie zwischen den Relevanzstühlen sitzen, die die deutsche Politik kennt: zu klein, um Rettungsschirme jenseits pandemischer Notlagen zu verdienen, zu bodenständig, um in den elitären Kulturbegriff zu passen, der Kunstschaffende an den Brosamen innerstädtischen Leerstands teilhaben lässt.
In Paris kauft die Stadt Ladengeschäfte auf, die sie weit unter Marktpreis an Buchhändler:innen oder Käseverkäufer:innen vermietet. Weil es dort ein Verständnis für Alltagskultur gibt, das Käsegeschäfte einschließt und weil man sich in der Politik dafür zuständig fühlt, den Raum dafür zu gestalten. In Hamburg klingt das absurd, im besten Fall utopisch. Sodass es für die Hansen-Kund:innen das Klügste sein wird, ihre Briefumschläge 30 Jahre lang so günstig bei Amazon zu kaufen, dass sie vom Ersparten nach Paris reisen können, um dort in einer Papeterie vorbeizuschauen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana